pse_104.001 Fragen um das Durchhalten des Menschen handelt, der die pse_104.002 daseinsbedrohende Erschütterung erlebt; das wird immer der pse_104.003 sein, der die Dichtung auf sich wirken läßt. Manchmal können pse_104.004 diese Möglichkeiten des Durchhaltens auch an einer Person pse_104.005 der Dichtung, besonders an der Hauptfigur, zu erfahren pse_104.006 sein. Dann wirkt das aber nur um so stärker auf den Erlebenden pse_104.007 zurück. Die Hauptfrage bleibt: wie halten wir die pse_104.008 tiefe Erschütterung durch, die uns beim Erleben des "Ödipus" pse_104.009 von Sophokles überkommt? Daß Ödipus selbst, die Hauptgestalt pse_104.010 des Dramas, auch diese Erschütterung furchtbar erlebt, pse_104.011 und mit ihm auch andere Figuren des Werkes, und daß er pse_104.012 sie und wie er sie durchhält, ist eines der größten Erlebnisse, pse_104.013 die Tragödien auslösen können -- weil uns dieses Durchhalten pse_104.014 vorgelebt wird, weil wir dadurch gezwungen werden, es pse_104.015 selber mitzuerleben; die Kunst wirft uns durch das, was in pse_104.016 diesem Kunstgebilde erscheint, in tiefe Not und führt uns pse_104.017 wieder durch das, was in ihm erscheint, aus ihr heraus. Daß pse_104.018 wir das alles nicht realiter erleben an Menschen, die es auch pse_104.019 realiter durchmachen, gibt dem künstlerischen Erleben die pse_104.020 Reinheit, die Wesentlichkeit, die Befreitheit vom Schockhaften pse_104.021 der Realität, der gegenüber wir auch noch mit ganz pse_104.022 anderen als solchen künstlerischen Erlebnissen reagieren pse_104.023 müßten. Die Erschütterung muß deshalb nicht geringer sein, pse_104.024 sie ist nicht irreal, illusorisch, sondern auch wirklich, aber rein pse_104.025 auf das Wesentliche abgestellt, in der Erscheinung umschlossen.
pse_104.026
pse_104.027 Wir fühlen uns nach dem Erleben einer großen tragischen pse_104.028 Dichtung trotz aller Erschütterung irgendwie anders: vertieft, pse_104.029 gehoben, klarer, ja gestärkt trotz allem oder in allem pse_104.030 Leiden. Das ist mit dem Wort Reinigung (Katharsis) gemeint: pse_104.031 wir haben in wesenhafte Bereiche blicken können, sie haben pse_104.032 sich vor uns enthüllt. "Die Tragödie will mehr: die Katharsis pse_104.033 der Seele. Was zwar diese Katharsis sei, wird auch durch pse_104.034 Aristoteles nicht klar. Jedenfalls aber ist sie ein Ereignis, das pse_104.035 das Selbstsein des Menschen angeht. Es ist ein aus dem Erleben pse_104.036 nicht bloß des Zuschauens, sondern des Betroffenseins pse_104.037 hervorgehendes Offenwerden für das Sein, eine Aneignung pse_104.038 des Wahren durch Reinigung von dem Verschleiernden,
pse_104.001 Fragen um das Durchhalten des Menschen handelt, der die pse_104.002 daseinsbedrohende Erschütterung erlebt; das wird immer der pse_104.003 sein, der die Dichtung auf sich wirken läßt. Manchmal können pse_104.004 diese Möglichkeiten des Durchhaltens auch an einer Person pse_104.005 der Dichtung, besonders an der Hauptfigur, zu erfahren pse_104.006 sein. Dann wirkt das aber nur um so stärker auf den Erlebenden pse_104.007 zurück. Die Hauptfrage bleibt: wie halten wir die pse_104.008 tiefe Erschütterung durch, die uns beim Erleben des »Ödipus« pse_104.009 von Sophokles überkommt? Daß Ödipus selbst, die Hauptgestalt pse_104.010 des Dramas, auch diese Erschütterung furchtbar erlebt, pse_104.011 und mit ihm auch andere Figuren des Werkes, und daß er pse_104.012 sie und wie er sie durchhält, ist eines der größten Erlebnisse, pse_104.013 die Tragödien auslösen können — weil uns dieses Durchhalten pse_104.014 vorgelebt wird, weil wir dadurch gezwungen werden, es pse_104.015 selber mitzuerleben; die Kunst wirft uns durch das, was in pse_104.016 diesem Kunstgebilde erscheint, in tiefe Not und führt uns pse_104.017 wieder durch das, was in ihm erscheint, aus ihr heraus. Daß pse_104.018 wir das alles nicht realiter erleben an Menschen, die es auch pse_104.019 realiter durchmachen, gibt dem künstlerischen Erleben die pse_104.020 Reinheit, die Wesentlichkeit, die Befreitheit vom Schockhaften pse_104.021 der Realität, der gegenüber wir auch noch mit ganz pse_104.022 anderen als solchen künstlerischen Erlebnissen reagieren pse_104.023 müßten. Die Erschütterung muß deshalb nicht geringer sein, pse_104.024 sie ist nicht irreal, illusorisch, sondern auch wirklich, aber rein pse_104.025 auf das Wesentliche abgestellt, in der Erscheinung umschlossen.
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pse_104.027 Wir fühlen uns nach dem Erleben einer großen tragischen pse_104.028 Dichtung trotz aller Erschütterung irgendwie anders: vertieft, pse_104.029 gehoben, klarer, ja gestärkt trotz allem oder in allem pse_104.030 Leiden. Das ist mit dem Wort Reinigung (Katharsis) gemeint: pse_104.031 wir haben in wesenhafte Bereiche blicken können, sie haben pse_104.032 sich vor uns enthüllt. »Die Tragödie will mehr: die Katharsis pse_104.033 der Seele. Was zwar diese Katharsis sei, wird auch durch pse_104.034 Aristoteles nicht klar. Jedenfalls aber ist sie ein Ereignis, das pse_104.035 das Selbstsein des Menschen angeht. Es ist ein aus dem Erleben pse_104.036 nicht bloß des Zuschauens, sondern des Betroffenseins pse_104.037 hervorgehendes Offenwerden für das Sein, eine Aneignung pse_104.038 des Wahren durch Reinigung von dem Verschleiernden,
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Wir fühlen uns nach dem Erleben einer großen tragischen pse_104.028
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/120>, abgerufen am 23.11.2024.
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