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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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der Romantik, vor allem aber bei Hebbel, der in seinen Tagebüchern pse_100.002
und Aufsätzen eine Metaphysik des Tragischen versucht. pse_100.003
Aber auch die Philosophen Scheler und Jaspers betrachten pse_100.004
das Tragische an hervorragender Stelle im Rahmen pse_100.005
ihrer Philosophie. So gewinnt man heute den Eindruck, pse_100.006
Tragik sei zunächst ein Begriff in einer philosophischen Weltanschauung, pse_100.007
und tragische Dichtung gestalte aus solcher pse_100.008
Sicht.

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Die kurzen Andeutungen über die Geschichte dieses Problems pse_100.010
zeigen eine große Verwirrung und Mannigfaltigkeit pse_100.011
der Anschauungen über Tragik. Aus ursprünglichen Zügen pse_100.012
in der Dichtform der Tragödie, also aus einem ästhetischen pse_100.013
Problem, ist die Tragik durch Heraufheben bestimmter Seinsverhältnisse pse_100.014
eine Frage des Menschseins überhaupt geworden, pse_100.015
und jede Weltanschauung nimmt neu dazu Stellung.

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Doch heben sich Grundzüge deutlich heraus. Tragik ist pse_100.017
nicht Merkmal realer, vom Menschen unabhängiger Tatbestände, pse_100.018
sondern eine Grundgestimmtheit des Menschen. pse_100.019
Es spricht sich in ihr eine tiefste Haltung des Gemüts aus, natürlich pse_100.020
jeweils in einem Akt der Weltbegegnung. Diese pse_100.021
Haltung erst bestimmt Welterfassung und Weltgestaltung pse_100.022
des Menschen. Die gleichen objektiven Tatbestände können pse_100.023
vom einen Menschen tragisch, von einem anderen komisch pse_100.024
erlebt und gestaltet werden. Man denke an das Motiv des pse_100.025
Richters, der selber der Schuldige ist: Kleist schreibt eine pse_100.026
Komödie, C. F. Meyer eine tragische Novelle. Wir wollen pse_100.027
festhalten: in der Dichtung kommen diese Verhältnisse am pse_100.028
reinsten heraus, treten sie uns in ihrem Wesenhaften entgegen. pse_100.029
Und hier wieder am klarsten und verdichtetsten in der Tragödie. pse_100.030
Daher werden wir auch später noch darauf zurückkommen pse_100.031
müssen.

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Wir versuchen diese tragische Grundgestimmtheit, die zu pse_100.033
tragischer Weltsicht führt, näher zu bestimmen. Alle Theorien pse_100.034
und jede Erfahrung zeigen schon oberflächlich ein Unlustgefühl. pse_100.035
Das ist aber viel zu allgemein und sagt noch kaum pse_100.036
etwas. Auch der Ausdruck "traurig" ist noch zu wenig, zu pse_100.037
allgemein, zu verwaschen. Erst das Scheitern eines Menschen pse_100.038
führt uns näher. Wir haben es im Tragischen mit einer tiefsten

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der Romantik, vor allem aber bei Hebbel, der in seinen Tagebüchern pse_100.002
und Aufsätzen eine Metaphysik des Tragischen versucht. pse_100.003
Aber auch die Philosophen Scheler und Jaspers betrachten pse_100.004
das Tragische an hervorragender Stelle im Rahmen pse_100.005
ihrer Philosophie. So gewinnt man heute den Eindruck, pse_100.006
Tragik sei zunächst ein Begriff in einer philosophischen Weltanschauung, pse_100.007
und tragische Dichtung gestalte aus solcher pse_100.008
Sicht.

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Die kurzen Andeutungen über die Geschichte dieses Problems pse_100.010
zeigen eine große Verwirrung und Mannigfaltigkeit pse_100.011
der Anschauungen über Tragik. Aus ursprünglichen Zügen pse_100.012
in der Dichtform der Tragödie, also aus einem ästhetischen pse_100.013
Problem, ist die Tragik durch Heraufheben bestimmter Seinsverhältnisse pse_100.014
eine Frage des Menschseins überhaupt geworden, pse_100.015
und jede Weltanschauung nimmt neu dazu Stellung.

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Doch heben sich Grundzüge deutlich heraus. Tragik ist pse_100.017
nicht Merkmal realer, vom Menschen unabhängiger Tatbestände, pse_100.018
sondern eine Grundgestimmtheit des Menschen. pse_100.019
Es spricht sich in ihr eine tiefste Haltung des Gemüts aus, natürlich pse_100.020
jeweils in einem Akt der Weltbegegnung. Diese pse_100.021
Haltung erst bestimmt Welterfassung und Weltgestaltung pse_100.022
des Menschen. Die gleichen objektiven Tatbestände können pse_100.023
vom einen Menschen tragisch, von einem anderen komisch pse_100.024
erlebt und gestaltet werden. Man denke an das Motiv des pse_100.025
Richters, der selber der Schuldige ist: Kleist schreibt eine pse_100.026
Komödie, C. F. Meyer eine tragische Novelle. Wir wollen pse_100.027
festhalten: in der Dichtung kommen diese Verhältnisse am pse_100.028
reinsten heraus, treten sie uns in ihrem Wesenhaften entgegen. pse_100.029
Und hier wieder am klarsten und verdichtetsten in der Tragödie. pse_100.030
Daher werden wir auch später noch darauf zurückkommen pse_100.031
müssen.

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Wir versuchen diese tragische Grundgestimmtheit, die zu pse_100.033
tragischer Weltsicht führt, näher zu bestimmen. Alle Theorien pse_100.034
und jede Erfahrung zeigen schon oberflächlich ein Unlustgefühl. pse_100.035
Das ist aber viel zu allgemein und sagt noch kaum pse_100.036
etwas. Auch der Ausdruck »traurig« ist noch zu wenig, zu pse_100.037
allgemein, zu verwaschen. Erst das Scheitern eines Menschen pse_100.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/116>, abgerufen am 03.05.2024.