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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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oft von Enthumanisierung, von Entpersönlichung in der Dichtung, pse_089.002
auch in der Lyrik. Jede Dichtung sei ein gänzlich für sich pse_089.003
abgeschlossenes Gebilde, ja ein Ding, das gar keinen Bezug pse_089.004
mehr zum Menschen, ja zum Menschlichen habe.

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Aber dem halten wir entgegen: Jede Dichtung ist Menschenwerk. pse_089.006
Und daran muß sich die Frage anschließen: ist das auch pse_089.007
für das Dasein und für die künstlerische Beschaffenheit einer pse_089.008
Dichtung von Bedeutung? Zunächst schon eine Tatsache: pse_089.009
jedes Menschenwerk unterscheidet sich von einem Gebilde pse_089.010
der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt. pse_089.011
Und dieses menschliche Schaffen und Wollen prägt pse_089.012
auch dem fertigen Werk bestimmte Züge auf. Das gilt für pse_089.013
alle menschlichen Werke. Auch einem wissenschaftlichen pse_089.014
Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers pse_089.015
an. Man vergleiche die Schriften von Spinoza, Kant pse_089.016
und Fichte. Man weiß auch, daß gestiftete Religionen die pse_089.017
Züge ihres Gründers aufweisen. Bis zu gewöhnlichen Geräten pse_089.018
kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu pse_089.019
entdecken. Aber: bei all diesen Werken könnte man, wenn pse_089.020
man ihren Sinn herausstellen will, von diesen menschlichen pse_089.021
Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht pse_089.022
davon berührt. Nicht so bei der Dichtung, wohl überhaupt pse_089.023
bei der Kunst. Die ästhetischen Gebilde greifen immer tief pse_089.024
ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung pse_089.025
einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.

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Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher pse_089.027
begründet werden. Es ist durchaus verständlich, wenn pse_089.028
strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem pse_089.029
Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte pse_089.030
darstelle: etwa die chemischen Formeln, die Versuche schon pse_089.031
des Leibniz und der modernen Logistiker. Sie wollen von der pse_089.032
Sprache loskommen. Sie behaupten, wegen der Unzulänglichkeiten pse_089.033
der Sprache. Was kann man schon mit "Vergißmeinnicht", pse_089.034
"Stiefmütterchen" als wissenschaftlichem Ausdruck pse_089.035
anfangen! Man greift in der Botanik zum lateinischen Fachausdruck. pse_089.036
Der sei international und zugleich für uns heutige pse_089.037
nicht mehr mit störenden Gefühlstönen belastet. So die strenge pse_089.038
Wissenschaft. Und sie hat recht. Nicht aber wegen der Unzulänglichkeit

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oft von Enthumanisierung, von Entpersönlichung in der Dichtung, pse_089.002
auch in der Lyrik. Jede Dichtung sei ein gänzlich für sich pse_089.003
abgeschlossenes Gebilde, ja ein Ding, das gar keinen Bezug pse_089.004
mehr zum Menschen, ja zum Menschlichen habe.

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für das Dasein und für die künstlerische Beschaffenheit einer pse_089.008
Dichtung von Bedeutung? Zunächst schon eine Tatsache: pse_089.009
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der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt. pse_089.011
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Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers pse_089.015
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kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu pse_089.019
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Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht pse_089.022
davon berührt. Nicht so bei der Dichtung, wohl überhaupt pse_089.023
bei der Kunst. Die ästhetischen Gebilde greifen immer tief pse_089.024
ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung pse_089.025
einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.

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Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher pse_089.027
begründet werden. Es ist durchaus verständlich, wenn pse_089.028
strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem pse_089.029
Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte pse_089.030
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des Leibniz und der modernen Logistiker. Sie wollen von der pse_089.032
Sprache loskommen. Sie behaupten, wegen der Unzulänglichkeiten pse_089.033
der Sprache. Was kann man schon mit »Vergißmeinnicht«, pse_089.034
»Stiefmütterchen« als wissenschaftlichem Ausdruck pse_089.035
anfangen! Man greift in der Botanik zum lateinischen Fachausdruck. pse_089.036
Der sei international und zugleich für uns heutige pse_089.037
nicht mehr mit störenden Gefühlstönen belastet. So die strenge pse_089.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/105>, abgerufen am 03.05.2024.