Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_084.001
also neben den Gefühlen der Wille und alle möglichen pse_084.002
rationalen Vorgänge, beim Ausgestalten, beim Planen, Entwerfen pse_084.003
und Feilen eine Rolle. Hier lassen sich nie bestimmte, pse_084.004
ein für allemal geltende Feststellungen treffen. Von unenthüllbaren pse_084.005
Geheimnissen des Schöpferischen, von der hohen Glut pse_084.006
und inneren Erhobenheit bis zur handwerklichen Plage um die pse_084.007
Einzelheiten: alles kann da am Schaffen einer Dichtung mitwirken. pse_084.008
In dieser Hinsicht sind die einzelnen Dichter ganz verschieden pse_084.009
von einander: vom rauschhaften Hinwerfen bis zum pse_084.010
handwerklich Tüchtigen gibt es die verschiedensten Verflechtungen pse_084.011
der zusammenwirkenden Kräfte.

pse_084.012
Auch der Schaffensprozeß selbst hat uns hier nur am Rande pse_084.013
zu beschäftigen. Den inneren Raum, in dem sich das Werk pse_084.014
bildet, haben wir eben angedeutet. Wie der Schaffensprozeß pse_084.015
verläuft, läßt sich auch nur in allgemeinsten Zügen angeben. pse_084.016
Denn das vollendete Werk selbst sagt kaum etwas darüber pse_084.017
aus; seine strahlende Schönheit muß nichts von den Mühen pse_084.018
und Leiden des Schaffens verraten. Berichte des Dichters pse_084.019
selbst können einiges ergeben, wenn er sich dazu geäußert pse_084.020
hat, oft auch Selbstbeobachtungen bei bloß bruchstückhaften pse_084.021
und nie weiter gediehenen Schaffensvorgängen.

pse_084.022
Jedenfalls ist der Schöpfungsvorgang bei einem menschlichen pse_084.023
Werk überhaupt von Wachstumsvorgängen in der pse_084.024
Natur schon grundsätzlich dadurch verschieden, daß dort, pse_084.025
wie gering auch immer der Anteil sein mag, der Wille, das pse_084.026
Bewußtsein eine entscheidende Rolle spielt. Der künstlerische pse_084.027
Vorgang, also auch der dichterische, ist von jedem anderen pse_084.028
Werkschaffen des Menschen dadurch abgehoben, daß er nicht pse_084.029
Realitäten, sondern ästhetische Erscheinungen schafft, wenn pse_084.030
diese auch nur an Realitäten wirklich werden: in den Farben, pse_084.031
im Marmor, auf dem Papier. Aber die Menschen, die ein pse_084.032
Maler, Bildhauer, Dichter schafft, sind keine realen, und doch pse_084.033
sind sie nicht minder wirklich: in ihrem bloßen Erscheinen pse_084.034
schon wirken sie. Ganz grob und vereinfachend kann man pse_084.035
zwei Stufen des dichterischen Schaffens unterscheiden: den pse_084.036
Anstoß und die Ausarbeitung. Es muß nicht sein, daß diese pse_084.037
sich immer zeitlich klar trennen lassen, es kann sogar sein, daß pse_084.038
mehrere Anstöße da sind.

pse_084.001
also neben den Gefühlen der Wille und alle möglichen pse_084.002
rationalen Vorgänge, beim Ausgestalten, beim Planen, Entwerfen pse_084.003
und Feilen eine Rolle. Hier lassen sich nie bestimmte, pse_084.004
ein für allemal geltende Feststellungen treffen. Von unenthüllbaren pse_084.005
Geheimnissen des Schöpferischen, von der hohen Glut pse_084.006
und inneren Erhobenheit bis zur handwerklichen Plage um die pse_084.007
Einzelheiten: alles kann da am Schaffen einer Dichtung mitwirken. pse_084.008
In dieser Hinsicht sind die einzelnen Dichter ganz verschieden pse_084.009
von einander: vom rauschhaften Hinwerfen bis zum pse_084.010
handwerklich Tüchtigen gibt es die verschiedensten Verflechtungen pse_084.011
der zusammenwirkenden Kräfte.

pse_084.012
Auch der Schaffensprozeß selbst hat uns hier nur am Rande pse_084.013
zu beschäftigen. Den inneren Raum, in dem sich das Werk pse_084.014
bildet, haben wir eben angedeutet. Wie der Schaffensprozeß pse_084.015
verläuft, läßt sich auch nur in allgemeinsten Zügen angeben. pse_084.016
Denn das vollendete Werk selbst sagt kaum etwas darüber pse_084.017
aus; seine strahlende Schönheit muß nichts von den Mühen pse_084.018
und Leiden des Schaffens verraten. Berichte des Dichters pse_084.019
selbst können einiges ergeben, wenn er sich dazu geäußert pse_084.020
hat, oft auch Selbstbeobachtungen bei bloß bruchstückhaften pse_084.021
und nie weiter gediehenen Schaffensvorgängen.

pse_084.022
Jedenfalls ist der Schöpfungsvorgang bei einem menschlichen pse_084.023
Werk überhaupt von Wachstumsvorgängen in der pse_084.024
Natur schon grundsätzlich dadurch verschieden, daß dort, pse_084.025
wie gering auch immer der Anteil sein mag, der Wille, das pse_084.026
Bewußtsein eine entscheidende Rolle spielt. Der künstlerische pse_084.027
Vorgang, also auch der dichterische, ist von jedem anderen pse_084.028
Werkschaffen des Menschen dadurch abgehoben, daß er nicht pse_084.029
Realitäten, sondern ästhetische Erscheinungen schafft, wenn pse_084.030
diese auch nur an Realitäten wirklich werden: in den Farben, pse_084.031
im Marmor, auf dem Papier. Aber die Menschen, die ein pse_084.032
Maler, Bildhauer, Dichter schafft, sind keine realen, und doch pse_084.033
sind sie nicht minder wirklich: in ihrem bloßen Erscheinen pse_084.034
schon wirken sie. Ganz grob und vereinfachend kann man pse_084.035
zwei Stufen des dichterischen Schaffens unterscheiden: den pse_084.036
Anstoß und die Ausarbeitung. Es muß nicht sein, daß diese pse_084.037
sich immer zeitlich klar trennen lassen, es kann sogar sein, daß pse_084.038
mehrere Anstöße da sind.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0100" n="84"/><lb n="pse_084.001"/>
also neben den Gefühlen der Wille und alle möglichen <lb n="pse_084.002"/>
rationalen Vorgänge, beim Ausgestalten, beim Planen, Entwerfen <lb n="pse_084.003"/>
und Feilen eine Rolle. Hier lassen sich nie bestimmte, <lb n="pse_084.004"/>
ein für allemal geltende Feststellungen treffen. Von unenthüllbaren <lb n="pse_084.005"/>
Geheimnissen des Schöpferischen, von der hohen Glut <lb n="pse_084.006"/>
und inneren Erhobenheit bis zur handwerklichen Plage um die <lb n="pse_084.007"/>
Einzelheiten: alles kann da am Schaffen einer Dichtung mitwirken. <lb n="pse_084.008"/>
In dieser Hinsicht sind die einzelnen Dichter ganz verschieden <lb n="pse_084.009"/>
von einander: vom rauschhaften Hinwerfen bis zum <lb n="pse_084.010"/>
handwerklich Tüchtigen gibt es die verschiedensten Verflechtungen <lb n="pse_084.011"/>
der zusammenwirkenden Kräfte.</p>
            <p><lb n="pse_084.012"/>
Auch der <hi rendition="#i">Schaffensprozeß</hi> selbst hat uns hier nur am Rande <lb n="pse_084.013"/>
zu beschäftigen. Den inneren Raum, in dem sich das Werk <lb n="pse_084.014"/>
bildet, haben wir eben angedeutet. Wie der Schaffensprozeß <lb n="pse_084.015"/>
verläuft, läßt sich auch nur in allgemeinsten Zügen angeben. <lb n="pse_084.016"/>
Denn das vollendete Werk selbst sagt kaum etwas darüber <lb n="pse_084.017"/>
aus; seine strahlende Schönheit muß nichts von den Mühen <lb n="pse_084.018"/>
und Leiden des Schaffens verraten. Berichte des Dichters <lb n="pse_084.019"/>
selbst können einiges ergeben, wenn er sich dazu geäußert <lb n="pse_084.020"/>
hat, oft auch Selbstbeobachtungen bei bloß bruchstückhaften <lb n="pse_084.021"/>
und nie weiter gediehenen Schaffensvorgängen.</p>
            <p><lb n="pse_084.022"/>
Jedenfalls ist der Schöpfungsvorgang bei einem menschlichen <lb n="pse_084.023"/>
Werk überhaupt von Wachstumsvorgängen in der <lb n="pse_084.024"/>
Natur schon grundsätzlich dadurch verschieden, daß dort, <lb n="pse_084.025"/>
wie gering auch immer der Anteil sein mag, der Wille, das <lb n="pse_084.026"/>
Bewußtsein eine entscheidende Rolle spielt. Der künstlerische <lb n="pse_084.027"/>
Vorgang, also auch der dichterische, ist von jedem anderen <lb n="pse_084.028"/>
Werkschaffen des Menschen dadurch abgehoben, daß er nicht <lb n="pse_084.029"/>
Realitäten, sondern ästhetische Erscheinungen schafft, wenn <lb n="pse_084.030"/>
diese auch nur an Realitäten wirklich werden: in den Farben, <lb n="pse_084.031"/>
im Marmor, auf dem Papier. Aber die Menschen, die ein <lb n="pse_084.032"/>
Maler, Bildhauer, Dichter schafft, sind keine realen, und doch <lb n="pse_084.033"/>
sind sie nicht minder wirklich: in ihrem bloßen Erscheinen <lb n="pse_084.034"/>
schon wirken sie. Ganz grob und vereinfachend kann man <lb n="pse_084.035"/>
zwei Stufen des dichterischen Schaffens unterscheiden: den <lb n="pse_084.036"/>
Anstoß und die Ausarbeitung. Es muß nicht sein, daß diese <lb n="pse_084.037"/>
sich immer zeitlich klar trennen lassen, es kann sogar sein, daß <lb n="pse_084.038"/>
mehrere Anstöße da sind.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[84/0100] pse_084.001 also neben den Gefühlen der Wille und alle möglichen pse_084.002 rationalen Vorgänge, beim Ausgestalten, beim Planen, Entwerfen pse_084.003 und Feilen eine Rolle. Hier lassen sich nie bestimmte, pse_084.004 ein für allemal geltende Feststellungen treffen. Von unenthüllbaren pse_084.005 Geheimnissen des Schöpferischen, von der hohen Glut pse_084.006 und inneren Erhobenheit bis zur handwerklichen Plage um die pse_084.007 Einzelheiten: alles kann da am Schaffen einer Dichtung mitwirken. pse_084.008 In dieser Hinsicht sind die einzelnen Dichter ganz verschieden pse_084.009 von einander: vom rauschhaften Hinwerfen bis zum pse_084.010 handwerklich Tüchtigen gibt es die verschiedensten Verflechtungen pse_084.011 der zusammenwirkenden Kräfte. pse_084.012 Auch der Schaffensprozeß selbst hat uns hier nur am Rande pse_084.013 zu beschäftigen. Den inneren Raum, in dem sich das Werk pse_084.014 bildet, haben wir eben angedeutet. Wie der Schaffensprozeß pse_084.015 verläuft, läßt sich auch nur in allgemeinsten Zügen angeben. pse_084.016 Denn das vollendete Werk selbst sagt kaum etwas darüber pse_084.017 aus; seine strahlende Schönheit muß nichts von den Mühen pse_084.018 und Leiden des Schaffens verraten. Berichte des Dichters pse_084.019 selbst können einiges ergeben, wenn er sich dazu geäußert pse_084.020 hat, oft auch Selbstbeobachtungen bei bloß bruchstückhaften pse_084.021 und nie weiter gediehenen Schaffensvorgängen. pse_084.022 Jedenfalls ist der Schöpfungsvorgang bei einem menschlichen pse_084.023 Werk überhaupt von Wachstumsvorgängen in der pse_084.024 Natur schon grundsätzlich dadurch verschieden, daß dort, pse_084.025 wie gering auch immer der Anteil sein mag, der Wille, das pse_084.026 Bewußtsein eine entscheidende Rolle spielt. Der künstlerische pse_084.027 Vorgang, also auch der dichterische, ist von jedem anderen pse_084.028 Werkschaffen des Menschen dadurch abgehoben, daß er nicht pse_084.029 Realitäten, sondern ästhetische Erscheinungen schafft, wenn pse_084.030 diese auch nur an Realitäten wirklich werden: in den Farben, pse_084.031 im Marmor, auf dem Papier. Aber die Menschen, die ein pse_084.032 Maler, Bildhauer, Dichter schafft, sind keine realen, und doch pse_084.033 sind sie nicht minder wirklich: in ihrem bloßen Erscheinen pse_084.034 schon wirken sie. Ganz grob und vereinfachend kann man pse_084.035 zwei Stufen des dichterischen Schaffens unterscheiden: den pse_084.036 Anstoß und die Ausarbeitung. Es muß nicht sein, daß diese pse_084.037 sich immer zeitlich klar trennen lassen, es kann sogar sein, daß pse_084.038 mehrere Anstöße da sind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/100
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/100>, abgerufen am 07.05.2024.