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Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155.

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opponieren, weil "Sozialisten das beschränkte Frauenstimm-
recht ablehnen müssen". Nun erklärte aber Keir Hardie
seinerseits, jeder Frauenrechtsbill zuzustimmen, weil
er wohl das unbeschränkte Stimmrecht wünscht, aber, wenn
es nicht sofort zu erreichen ist, auch das beschränkte Wahl-
recht als Beginn der weiteren Befreiung der Frau an-
nehmen muß.

Auf dem vorjährigen deutschen Sozialistentag sprach
Bebel das Donnerwort von der Schändlichkeit, das Frauen-
stimmrechtsprinzip Opportunitätsrücksichten zu opfern. Die
sozialdemokratische Fraktion des österreichischen Reichstages
hat im Parlament einen Antrag zu Gunsten des Frauen-
stimmrechts angemeldet.

Bedeutungsvoller als diese vereinzelten Vorgänge ist
aber die Stellungnahme des Stuttgarter internationalen
sozialdemokratischen Kongresses, der den Parteien endlich
nicht nur theoretische Anerkennung, sondern Aktion zur
Pflicht machte.

Das Blatt der deutschen sozialdemokratischen Frauen-
bewegung "Die Gleichheit" ermahnte vor kurzem die Sozial-
demokratie, doch endlich zu bemerken, daß
"die bürgerlichen Parteien aller Länder Entwicklungstendenzen
zeitigen, welche auf einen Frontwechsel in der Frage des Frauen-
stimmrechts hindrängen und ganz besonders eine starke und wach-
sende Neigung zur Einführung eines beschränkten Frauenwahl-
rechts erzeugen. Da gilt es für den internationalen Sozialismus,
sich nirgends durch Möglichkeiten überraschen und überrumpeln
zu lassen, die über Nacht zu Wirklichkeiten reifen können, ihnen
vielmehr weitschauend zuvorzukommen und dem proletarischen
Befreiungskampfe nutzbar zu machen."

Etwas spät, aber doch bemerkt man nun, daß andere
Parteien, die in dieser Beziehung gar keine programmatischen
Verpflichtungen haben, in der Praxis weiter gehen, als die
theoretisch an der Spitze marschierenden Sozialdemokraten.
Denn in der Evolution der Frauenemanzipation bedeutet es
unendlich mehr, wenn Norwegen zwei Drittel statt aller
Frauen politisch befreit, als wenn es platonisch allen das
Recht zuspricht, in der Praxis aber keine einzige heranläßt.

Und auch den sozialistischen Frauen dämmert es, daß
in dem ständigen Unterordnen der speziellen Fraueninteressen
unter die der "Allgemeinheit des Proletariats" eine tüchtige
Portion Männerklasseninteresse steckt. Und eine ebenso ent-
schiedene Klassifizierung von Proletariern Nr. 1 und Nr. 2
und die bürgerliche Einteilung der erstklassigen und zweit-
klassigen Bürger: Mann und Frau. Von einer Partei,
deren höchste Aufgabe es ist, das Selbstbewußtsein des Pro-
letariats zu wecken, ist es ein schwerer Fehler, das Selbst-
bewußstsein der Proletarierinnen so unentwickelt zu lassen,
als es nötig ist, wenn diese immer wieder fromm ja und
amen sagen sollen zu dem Ausschalten der Frauenforderun-
gen, "die das Jnteresse der Männer gefährden".

"Erst die vollen Rechte des Proletariers, dann die der
Frauen." Das ist ja auch ein Standpunkt, dem Geiste einer
wirklichen Demokratie aber ebenso fernstehend, wie die Pri-
vilegierung einzelner Klassen.

Jn manchen Ländern, wie in England, Holland etc.
arbeiten die sozialistischen Frauen auch schon längst für das
Frauenstimmrecht; in Oesterreich und in Ungarn enthielten
sich die Frauen dieses direkten Kampfes für ihr ureigenstes
Recht. Demgegenüber zeigen die sozialdemokratischerseits als
"bürgerlich" verspotteten Frauen aller Länder ein viel in-
tensiveres Verständnis für die Notwendigkeit des direkten
praktischen Einflusses. Wenn die "bürgerlichen" Frauen
glaubten, was sich sozialdemokratische Frauen so lange weis-
machen ließen, daß die Männer durch das Betonen des
Klasseninteresses durch die Jnteressen der ihrer Klasse an-
gehörigen Frauen genügend vertreten, gäbe es heute nicht
Millionen umspannende politische Frauenorganisationen, wie
die Jnternational Woman`s Suffrage Alliance und den Jn-
ternational Council of Women.

[Spaltenumbruch]

Jn der Praxis humpelt das Proletariat der Frauen-
stimmrechtsbewegung nach. Die Durchführung des Stutt-
garter Beschlusses könnte der Sozialdemokratie doch noch zu
einem schönen Posten in diesem Gefechte verhelfen. Der
Kongreß hat zum Angriff geblasen. Werden die sozial-
demokratischen Parteien aller Länder nun auch losmarschieren
- ganz sicher ist es nicht - so kann die in ganz Europa
schon im Eilschritt einschreitende Frauenstimmrechts-
bewegung in ein Tempo verfallen, das überall den ent-
scheidenden Kampf aufs höchste beschleunigen dürfte.



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opponieren, weil „Sozialisten das beschränkte Frauenstimm-
recht ablehnen müssen“. Nun erklärte aber Keir Hardie
seinerseits, jeder Frauenrechtsbill zuzustimmen, weil
er wohl das unbeschränkte Stimmrecht wünscht, aber, wenn
es nicht sofort zu erreichen ist, auch das beschränkte Wahl-
recht als Beginn der weiteren Befreiung der Frau an-
nehmen muß.

Auf dem vorjährigen deutschen Sozialistentag sprach
Bebel das Donnerwort von der Schändlichkeit, das Frauen-
stimmrechtsprinzip Opportunitätsrücksichten zu opfern. Die
sozialdemokratische Fraktion des österreichischen Reichstages
hat im Parlament einen Antrag zu Gunsten des Frauen-
stimmrechts angemeldet.

Bedeutungsvoller als diese vereinzelten Vorgänge ist
aber die Stellungnahme des Stuttgarter internationalen
sozialdemokratischen Kongresses, der den Parteien endlich
nicht nur theoretische Anerkennung, sondern Aktion zur
Pflicht machte.

Das Blatt der deutschen sozialdemokratischen Frauen-
bewegung „Die Gleichheit“ ermahnte vor kurzem die Sozial-
demokratie, doch endlich zu bemerken, daß
„die bürgerlichen Parteien aller Länder Entwicklungstendenzen
zeitigen, welche auf einen Frontwechsel in der Frage des Frauen-
stimmrechts hindrängen und ganz besonders eine starke und wach-
sende Neigung zur Einführung eines beschränkten Frauenwahl-
rechts erzeugen. Da gilt es für den internationalen Sozialismus,
sich nirgends durch Möglichkeiten überraschen und überrumpeln
zu lassen, die über Nacht zu Wirklichkeiten reifen können, ihnen
vielmehr weitschauend zuvorzukommen und dem proletarischen
Befreiungskampfe nutzbar zu machen.“

Etwas spät, aber doch bemerkt man nun, daß andere
Parteien, die in dieser Beziehung gar keine programmatischen
Verpflichtungen haben, in der Praxis weiter gehen, als die
theoretisch an der Spitze marschierenden Sozialdemokraten.
Denn in der Evolution der Frauenemanzipation bedeutet es
unendlich mehr, wenn Norwegen zwei Drittel statt aller
Frauen politisch befreit, als wenn es platonisch allen das
Recht zuspricht, in der Praxis aber keine einzige heranläßt.

Und auch den sozialistischen Frauen dämmert es, daß
in dem ständigen Unterordnen der speziellen Fraueninteressen
unter die der „Allgemeinheit des Proletariats“ eine tüchtige
Portion Männerklasseninteresse steckt. Und eine ebenso ent-
schiedene Klassifizierung von Proletariern Nr. 1 und Nr. 2
und die bürgerliche Einteilung der erstklassigen und zweit-
klassigen Bürger: Mann und Frau. Von einer Partei,
deren höchste Aufgabe es ist, das Selbstbewußtsein des Pro-
letariats zu wecken, ist es ein schwerer Fehler, das Selbst-
bewußstsein der Proletarierinnen so unentwickelt zu lassen,
als es nötig ist, wenn diese immer wieder fromm ja und
amen sagen sollen zu dem Ausschalten der Frauenforderun-
gen, „die das Jnteresse der Männer gefährden“.

„Erst die vollen Rechte des Proletariers, dann die der
Frauen.“ Das ist ja auch ein Standpunkt, dem Geiste einer
wirklichen Demokratie aber ebenso fernstehend, wie die Pri-
vilegierung einzelner Klassen.

Jn manchen Ländern, wie in England, Holland ꝛc.
arbeiten die sozialistischen Frauen auch schon längst für das
Frauenstimmrecht; in Oesterreich und in Ungarn enthielten
sich die Frauen dieses direkten Kampfes für ihr ureigenstes
Recht. Demgegenüber zeigen die sozialdemokratischerseits als
„bürgerlich“ verspotteten Frauen aller Länder ein viel in-
tensiveres Verständnis für die Notwendigkeit des direkten
praktischen Einflusses. Wenn die „bürgerlichen“ Frauen
glaubten, was sich sozialdemokratische Frauen so lange weis-
machen ließen, daß die Männer durch das Betonen des
Klasseninteresses durch die Jnteressen der ihrer Klasse an-
gehörigen Frauen genügend vertreten, gäbe es heute nicht
Millionen umspannende politische Frauenorganisationen, wie
die Jnternational Woman`s Suffrage Alliance und den Jn-
ternational Council of Women.

[Spaltenumbruch]

Jn der Praxis humpelt das Proletariat der Frauen-
stimmrechtsbewegung nach. Die Durchführung des Stutt-
garter Beschlusses könnte der Sozialdemokratie doch noch zu
einem schönen Posten in diesem Gefechte verhelfen. Der
Kongreß hat zum Angriff geblasen. Werden die sozial-
demokratischen Parteien aller Länder nun auch losmarschieren
– ganz sicher ist es nicht – so kann die in ganz Europa
schon im Eilschritt einschreitende Frauenstimmrechts-
bewegung in ein Tempo verfallen, das überall den ent-
scheidenden Kampf aufs höchste beschleunigen dürfte.



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[155/0003] opponieren, weil „Sozialisten das beschränkte Frauenstimm- recht ablehnen müssen“. Nun erklärte aber Keir Hardie seinerseits, jeder Frauenrechtsbill zuzustimmen, weil er wohl das unbeschränkte Stimmrecht wünscht, aber, wenn es nicht sofort zu erreichen ist, auch das beschränkte Wahl- recht als Beginn der weiteren Befreiung der Frau an- nehmen muß. Auf dem vorjährigen deutschen Sozialistentag sprach Bebel das Donnerwort von der Schändlichkeit, das Frauen- stimmrechtsprinzip Opportunitätsrücksichten zu opfern. Die sozialdemokratische Fraktion des österreichischen Reichstages hat im Parlament einen Antrag zu Gunsten des Frauen- stimmrechts angemeldet. Bedeutungsvoller als diese vereinzelten Vorgänge ist aber die Stellungnahme des Stuttgarter internationalen sozialdemokratischen Kongresses, der den Parteien endlich nicht nur theoretische Anerkennung, sondern Aktion zur Pflicht machte. Das Blatt der deutschen sozialdemokratischen Frauen- bewegung „Die Gleichheit“ ermahnte vor kurzem die Sozial- demokratie, doch endlich zu bemerken, daß „die bürgerlichen Parteien aller Länder Entwicklungstendenzen zeitigen, welche auf einen Frontwechsel in der Frage des Frauen- stimmrechts hindrängen und ganz besonders eine starke und wach- sende Neigung zur Einführung eines beschränkten Frauenwahl- rechts erzeugen. Da gilt es für den internationalen Sozialismus, sich nirgends durch Möglichkeiten überraschen und überrumpeln zu lassen, die über Nacht zu Wirklichkeiten reifen können, ihnen vielmehr weitschauend zuvorzukommen und dem proletarischen Befreiungskampfe nutzbar zu machen.“ Etwas spät, aber doch bemerkt man nun, daß andere Parteien, die in dieser Beziehung gar keine programmatischen Verpflichtungen haben, in der Praxis weiter gehen, als die theoretisch an der Spitze marschierenden Sozialdemokraten. Denn in der Evolution der Frauenemanzipation bedeutet es unendlich mehr, wenn Norwegen zwei Drittel statt aller Frauen politisch befreit, als wenn es platonisch allen das Recht zuspricht, in der Praxis aber keine einzige heranläßt. Und auch den sozialistischen Frauen dämmert es, daß in dem ständigen Unterordnen der speziellen Fraueninteressen unter die der „Allgemeinheit des Proletariats“ eine tüchtige Portion Männerklasseninteresse steckt. Und eine ebenso ent- schiedene Klassifizierung von Proletariern Nr. 1 und Nr. 2 und die bürgerliche Einteilung der erstklassigen und zweit- klassigen Bürger: Mann und Frau. Von einer Partei, deren höchste Aufgabe es ist, das Selbstbewußtsein des Pro- letariats zu wecken, ist es ein schwerer Fehler, das Selbst- bewußstsein der Proletarierinnen so unentwickelt zu lassen, als es nötig ist, wenn diese immer wieder fromm ja und amen sagen sollen zu dem Ausschalten der Frauenforderun- gen, „die das Jnteresse der Männer gefährden“. „Erst die vollen Rechte des Proletariers, dann die der Frauen.“ Das ist ja auch ein Standpunkt, dem Geiste einer wirklichen Demokratie aber ebenso fernstehend, wie die Pri- vilegierung einzelner Klassen. Jn manchen Ländern, wie in England, Holland ꝛc. arbeiten die sozialistischen Frauen auch schon längst für das Frauenstimmrecht; in Oesterreich und in Ungarn enthielten sich die Frauen dieses direkten Kampfes für ihr ureigenstes Recht. Demgegenüber zeigen die sozialdemokratischerseits als „bürgerlich“ verspotteten Frauen aller Länder ein viel in- tensiveres Verständnis für die Notwendigkeit des direkten praktischen Einflusses. Wenn die „bürgerlichen“ Frauen glaubten, was sich sozialdemokratische Frauen so lange weis- machen ließen, daß die Männer durch das Betonen des Klasseninteresses durch die Jnteressen der ihrer Klasse an- gehörigen Frauen genügend vertreten, gäbe es heute nicht Millionen umspannende politische Frauenorganisationen, wie die Jnternational Woman`s Suffrage Alliance und den Jn- ternational Council of Women. Jn der Praxis humpelt das Proletariat der Frauen- stimmrechtsbewegung nach. Die Durchführung des Stutt- garter Beschlusses könnte der Sozialdemokratie doch noch zu einem schönen Posten in diesem Gefechte verhelfen. Der Kongreß hat zum Angriff geblasen. Werden die sozial- demokratischen Parteien aller Länder nun auch losmarschieren – ganz sicher ist es nicht – so kann die in ganz Europa schon im Eilschritt einschreitende Frauenstimmrechts- bewegung in ein Tempo verfallen, das überall den ent- scheidenden Kampf aufs höchste beschleunigen dürfte. _________________________________________________________

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Zitationshilfe: Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155, hier S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwimmer_sozialdemokratie_1907/3>, abgerufen am 16.04.2024.