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Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155.

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sache entspringende Abneigung des Klerikalismus gegen die
politische Gleichberechtigung der Frauen geht, erhellt auch
aus der Tatsache, daß Pius X., darüber befragt, erklärte,
alle Forderungen der Frauenbewegung berechtigt zu finden,
die Forderung nach politischem Rechte aber strengstens ab-
weisen zu müssen. Das ist deutlich und für alle Klerikalen
maßgebend.

Vandervelde, der über alle Zweifel gesinnungstreue
belgische Sozialist, bewies s. Z. in einer Zeitschrift, daß
das scheinbare Eingehen der klerikalen Partei auf das
Stimmrecht in Belgien blos ein Manöver zum Sprengen
der sozialistisch-liberalen Koalition war, dem diese Parteien
auch bereitwilligst - aufgesessen sind. Jn Beantwortung
einer Rundfrage über das Frauenstimmrecht schreibt Vander-
velde jetzt in der Revue Socialiste:

"Die klerikale Erklärung genügte, um die Opposition zu
teilen: Die Liberalen von denen viele einen Vorwand suchten,
um sich in der Wahlrechtsfrage von den Sozialisten loszulösen,
machten diesen bittere Vorwürfe darüber, daß sie die Frage des
Frauenwahlrechts auf Tapet gebracht hätten. Der Wahrheit ge-
mäß müssen wir hinzufügen, daß auch inmitten der Sozialisten
sich lebhafter Widerstand gegen die Forderung erhoben hatte,
sobald es den Anschein gewann, daß sie aus der Theorie in die
Praxis übersetzt werden sollte. Man fürchtete in Belgien, wie
jetzt in Frankreich, daß die baldige Einführung des Frauen-
wahlrechts - in einem Lande, wo der Beichtstuhl eine große
Rolle spielt - auf unendlich lange Zeit hinaus die Oberherrschaft
der Parteien der Rechten sichern würde. Wie ich aber bereits früher
in Belgien erklärt habe, bleibe ich überzeugt, daß sogar im Hin-
blick auf die Wahlresultate das Frauenwahlrecht nicht oder
wenigstens nicht lange die Folgen zeitigen würde, welche die
Klerikalen erhoffen und die Antiklerikalen fürchten.

Gewiß: es wäre kindisch, zu verkennen, daß in der ersten
Zeit nach Einführung des Frauenwahlrechts die Demokratie die
Strafe dafür tragen muß, daß sie fast nichts für die politische
und soziale Erziehung der Frauen geleistet und diese oft voll-
ständig dem Einfluß der Kirche überlassen hat.

Jedoch selbst in der Uebergangsperiode würde der Wahl-
nutzen der Rechtsparteien nicht so groß sein, wie man gewöhnlich
erwartet. Zunächst weil schon jetzt viele Männer so stimmen,
wie es ihre Frauen wollen oder richtiger, wie es ihr Pfarrer
will, der sich der Frauen als Vermittlerinnen seines Einflusses
bedient.

Jn derselben Erklärung betont Vandervelde, was die
parteiunabhängige Frauenbewegung von jeher behauptet:

"Von dem Augenblicke an, wo die Frauen wahlberechtigt
sein werden, gewinnen alle Parteien ein Wahlinteresse - von
höheren Erwägungen abgesehen - an der politischen Schulung
des weiblichen Geschlechts. Es wäre vorbei mit der schmach-
vollen Gleichgültigkeit, welche viele Demokraten und Sozialisten
gegenüber dem Elend, der Unwissenheit, der geistigen Verwahr-
losung der Hälfte der Menschheit an den Tag legen. Dank ihrer
politischen Befreiung würde die Frau aus dem Schatten der
Kirche in das volle Tageslicht des öffentlichen Lebens treten.
Und - das ist meine unerschütterliche Ueberzeugung - indem
die Kirche ihre letzte Reserve aufmarschieren ließe, würde sie für
eine nahe Zukunft ihre endgültige Niederlage vorbereiten. Darum
meine ich, daß die Konservativen sich die Sache zweimal über-
legen werden, ehe sie für eine Reform stimmen, die ihren Prin-
zipien widerstreitet. Die Sozialisten aber ihrerseits müssen es
sich viermal überlegen, ehe sie eine Reform ablehnen, die ihr
Programm fordert."

Außer in Belgien wurde das Frauenstimmrecht im
Parlament nirgends zuerst von der Sozialdemokratie ge-
fordert. Jn den besten Fällen schloß diese sich anderen
Parteien an, und in den meisten Ländern war ihr die
Frage des Frauenstimmrechtes Luft. Als hätte sie nie
grundsätzliche Erklärungen formuliert. Schließlich fehlte es
nicht an Ländern, in denen die Sozialdemokratie für
Parlamentsreformen scharf kämpfte und kämpft, ohne dem
Frauenstimmrecht Aufmerksamkeit zu schenken, ja sogar mit
bewußter, energischer Abwehr der von anderen Seiten,
speziell der Frauenbewegung herandrängenden Forderung
nach dem Frauenstimmrecht.

So war es kürzlich in Oesterreich und so ist es jetzt
in Ungarn. Die ungarische Sozialdemokratie hat in ihrem
Zentralorgan wiederholt offen herausgesagt, sie halte die
Einführung des Frauenstimmrechtes in Ungarn für total[Spaltenumbruch] unzeitgemäß. Das in einer Zeit, wo es gilt, "allgemeines
Wahlrecht" einzuführen! Die liberale Partei in England
hat gewiß viel gegen die politische Anständigkeit verbrochen,
als sie sich Jahrzehntelang wie ein hungriger Kandidat an
der Kost der in England kolossal starken politischen Frauen-
bewegung stärkte und, als sie zur Macht kam, ihren Ver-
sprechungen untreu wurde, wie der zur Anstellung gelangte
Kandidat. Von dieser Partei sagte aber Sir Charles Mc
Laren
, einer der Parteiführer, sie würde es nicht wagen,
das Frauenstimmrecht abzulehnen, wenn das Parlament sich
mit irgend einer allgemeinen Wahlrechtsausdehnung zu
befassen hätte. Nur außerhalb dieses Zusammenhanges
wäre es möglich, die politische Gleichberechtigung der eng-
lischen Frauen noch immer aufzuhalten.

Aber nicht die Stimme Vanderveldes, noch anderer
einsichtiger Sozialistenführer bringt den sich augenscheinlich
vorbereitenden Umschwung innerhalb der Sozialdemokratie
an die Oberfläche. Wichtigere Tatsachen drängen die
Sozialdemokratie aus der ihrer Natur eigentlich zuwider-
laufenden Unbeweglichkeit.

Vor allem die sensationellen Ereignisse in Finnland,
wo ausnahmslos alle Parteien für das auch auf die Frauen
ausgedehnte allgemeine Stimmrecht mit vollem Erfolg ge-
kämpft hatten. Neunzehn Frauen, auf alle Parteien ver-
teilt, gelangten bei der ersten Gelegenheit in den finnischen
Landtag. Dann das am 14. Juli vom norwegischen
Storthing angenommene Frauenstimmrechtsgesetz, das bei
der nächsten Wahl in Norwegen zweifellos auch Frauen
ins Parlament bringen wird.

Unter dem Einfluß dieser Ereignisse ist die Ver-
wirklichung des Frauenstimmrechtes in Schweden, wo es
vor kurzem abgelehnt wurde - sehr nachdrücklich auch von
der sozialdemokratischen Partei - mehr als wahrscheinlich
geworden.

Jn Holland hat eine zur Vorbereitung der für 1909
geplanten Verfassungsrevision gewählte parlamentarische
Kommission, in der alle politischen Parteien vertreten sind,
sich mit Stimmenmehrheit für die vollständige politische
Gleichberechtigung der Frauen ausgesprochen; 1909 wird
also der holländischen Frau Freiheit bringen. Jn diesem
Land erklärte Troelstra, der Führer der sozialdemokratischen
Partei, der letzte "balikluiver" (Brückenlungerer) müsse
Stimmrecht bekommen, aber keine einzige Frau.

Die unglaubliche Prinzipienvernachlässigung der sozi-
alistischen Partei könnte ihr aber zukünftig ungeheueren
Schaden verursachen. Einerseits direkten Verlust von An-
hängern, die enttäuscht sind durch die Leichtigkeit, mit der
allerorten aus "taktischen Opportunitätsrücksichten" das
Jnteresse der Frauen in die Ecke gestellt wird, wie ein
Stock, den man manchmal benützt, um sich darauf zu stützen,
ein andermal als Waffe der Abwehr gebraucht und ihn
dann nach Belieben wieder in die Ecke wirft. Viele be-
geisterte Gläubige haben sich trostlos von dieser Partei ab-
gewendet, weil sie ihre Haltung den Frauen gegenüber allzu
theoretisch fanden.

Andererseits hätte diese Partei den Einfluß der Kirche
zum größten Teil an sich reißen können, wenn sie ihrer
seinerzeitigen prinzipiellen Erklärung entsprechende tat-
sächliche Schritte getan hätte. Damals hätten sich noch
alle bürgerlichen Parteien gegen die Forderung gesträubt
und der sozialdemokratischen Partei wären alle in die Arme
gelaufen, die für die vollen Menschenrechte der Frau ein-
treten. Und das sind Millionen, die ihr so fern ge-
blieben sind.

Nun scheint aber die Sozialdemokratie doch darauf zu
kommen, daß sie es so nicht weiter treiben kann, und
interessante Momente deuten auf ein Erwachen aus der
gefährlichen Untätigkeit hin.

Es war z. B. lange Zeit hindurch Taktik der englischen
Sozialisten, den Anträgen für das Frauenstimmrecht zu[Spaltenumbruch]

sache entspringende Abneigung des Klerikalismus gegen die
politische Gleichberechtigung der Frauen geht, erhellt auch
aus der Tatsache, daß Pius X., darüber befragt, erklärte,
alle Forderungen der Frauenbewegung berechtigt zu finden,
die Forderung nach politischem Rechte aber strengstens ab-
weisen zu müssen. Das ist deutlich und für alle Klerikalen
maßgebend.

Vandervelde, der über alle Zweifel gesinnungstreue
belgische Sozialist, bewies s. Z. in einer Zeitschrift, daß
das scheinbare Eingehen der klerikalen Partei auf das
Stimmrecht in Belgien blos ein Manöver zum Sprengen
der sozialistisch-liberalen Koalition war, dem diese Parteien
auch bereitwilligst – aufgesessen sind. Jn Beantwortung
einer Rundfrage über das Frauenstimmrecht schreibt Vander-
velde jetzt in der Revue Socialiste:

„Die klerikale Erklärung genügte, um die Opposition zu
teilen: Die Liberalen von denen viele einen Vorwand suchten,
um sich in der Wahlrechtsfrage von den Sozialisten loszulösen,
machten diesen bittere Vorwürfe darüber, daß sie die Frage des
Frauenwahlrechts auf Tapet gebracht hätten. Der Wahrheit ge-
mäß müssen wir hinzufügen, daß auch inmitten der Sozialisten
sich lebhafter Widerstand gegen die Forderung erhoben hatte,
sobald es den Anschein gewann, daß sie aus der Theorie in die
Praxis übersetzt werden sollte. Man fürchtete in Belgien, wie
jetzt in Frankreich, daß die baldige Einführung des Frauen-
wahlrechts – in einem Lande, wo der Beichtstuhl eine große
Rolle spielt – auf unendlich lange Zeit hinaus die Oberherrschaft
der Parteien der Rechten sichern würde. Wie ich aber bereits früher
in Belgien erklärt habe, bleibe ich überzeugt, daß sogar im Hin-
blick auf die Wahlresultate das Frauenwahlrecht nicht oder
wenigstens nicht lange die Folgen zeitigen würde, welche die
Klerikalen erhoffen und die Antiklerikalen fürchten.

Gewiß: es wäre kindisch, zu verkennen, daß in der ersten
Zeit nach Einführung des Frauenwahlrechts die Demokratie die
Strafe dafür tragen muß, daß sie fast nichts für die politische
und soziale Erziehung der Frauen geleistet und diese oft voll-
ständig dem Einfluß der Kirche überlassen hat.

Jedoch selbst in der Uebergangsperiode würde der Wahl-
nutzen der Rechtsparteien nicht so groß sein, wie man gewöhnlich
erwartet. Zunächst weil schon jetzt viele Männer so stimmen,
wie es ihre Frauen wollen oder richtiger, wie es ihr Pfarrer
will, der sich der Frauen als Vermittlerinnen seines Einflusses
bedient.

Jn derselben Erklärung betont Vandervelde, was die
parteiunabhängige Frauenbewegung von jeher behauptet:

„Von dem Augenblicke an, wo die Frauen wahlberechtigt
sein werden, gewinnen alle Parteien ein Wahlinteresse – von
höheren Erwägungen abgesehen – an der politischen Schulung
des weiblichen Geschlechts. Es wäre vorbei mit der schmach-
vollen Gleichgültigkeit, welche viele Demokraten und Sozialisten
gegenüber dem Elend, der Unwissenheit, der geistigen Verwahr-
losung der Hälfte der Menschheit an den Tag legen. Dank ihrer
politischen Befreiung würde die Frau aus dem Schatten der
Kirche in das volle Tageslicht des öffentlichen Lebens treten.
Und – das ist meine unerschütterliche Ueberzeugung – indem
die Kirche ihre letzte Reserve aufmarschieren ließe, würde sie für
eine nahe Zukunft ihre endgültige Niederlage vorbereiten. Darum
meine ich, daß die Konservativen sich die Sache zweimal über-
legen werden, ehe sie für eine Reform stimmen, die ihren Prin-
zipien widerstreitet. Die Sozialisten aber ihrerseits müssen es
sich viermal überlegen, ehe sie eine Reform ablehnen, die ihr
Programm fordert.“

Außer in Belgien wurde das Frauenstimmrecht im
Parlament nirgends zuerst von der Sozialdemokratie ge-
fordert. Jn den besten Fällen schloß diese sich anderen
Parteien an, und in den meisten Ländern war ihr die
Frage des Frauenstimmrechtes Luft. Als hätte sie nie
grundsätzliche Erklärungen formuliert. Schließlich fehlte es
nicht an Ländern, in denen die Sozialdemokratie für
Parlamentsreformen scharf kämpfte und kämpft, ohne dem
Frauenstimmrecht Aufmerksamkeit zu schenken, ja sogar mit
bewußter, energischer Abwehr der von anderen Seiten,
speziell der Frauenbewegung herandrängenden Forderung
nach dem Frauenstimmrecht.

So war es kürzlich in Oesterreich und so ist es jetzt
in Ungarn. Die ungarische Sozialdemokratie hat in ihrem
Zentralorgan wiederholt offen herausgesagt, sie halte die
Einführung des Frauenstimmrechtes in Ungarn für total[Spaltenumbruch] unzeitgemäß. Das in einer Zeit, wo es gilt, „allgemeines
Wahlrecht“ einzuführen! Die liberale Partei in England
hat gewiß viel gegen die politische Anständigkeit verbrochen,
als sie sich Jahrzehntelang wie ein hungriger Kandidat an
der Kost der in England kolossal starken politischen Frauen-
bewegung stärkte und, als sie zur Macht kam, ihren Ver-
sprechungen untreu wurde, wie der zur Anstellung gelangte
Kandidat. Von dieser Partei sagte aber Sir Charles Mc
Laren
, einer der Parteiführer, sie würde es nicht wagen,
das Frauenstimmrecht abzulehnen, wenn das Parlament sich
mit irgend einer allgemeinen Wahlrechtsausdehnung zu
befassen hätte. Nur außerhalb dieses Zusammenhanges
wäre es möglich, die politische Gleichberechtigung der eng-
lischen Frauen noch immer aufzuhalten.

Aber nicht die Stimme Vanderveldes, noch anderer
einsichtiger Sozialistenführer bringt den sich augenscheinlich
vorbereitenden Umschwung innerhalb der Sozialdemokratie
an die Oberfläche. Wichtigere Tatsachen drängen die
Sozialdemokratie aus der ihrer Natur eigentlich zuwider-
laufenden Unbeweglichkeit.

Vor allem die sensationellen Ereignisse in Finnland,
wo ausnahmslos alle Parteien für das auch auf die Frauen
ausgedehnte allgemeine Stimmrecht mit vollem Erfolg ge-
kämpft hatten. Neunzehn Frauen, auf alle Parteien ver-
teilt, gelangten bei der ersten Gelegenheit in den finnischen
Landtag. Dann das am 14. Juli vom norwegischen
Storthing angenommene Frauenstimmrechtsgesetz, das bei
der nächsten Wahl in Norwegen zweifellos auch Frauen
ins Parlament bringen wird.

Unter dem Einfluß dieser Ereignisse ist die Ver-
wirklichung des Frauenstimmrechtes in Schweden, wo es
vor kurzem abgelehnt wurde – sehr nachdrücklich auch von
der sozialdemokratischen Partei – mehr als wahrscheinlich
geworden.

Jn Holland hat eine zur Vorbereitung der für 1909
geplanten Verfassungsrevision gewählte parlamentarische
Kommission, in der alle politischen Parteien vertreten sind,
sich mit Stimmenmehrheit für die vollständige politische
Gleichberechtigung der Frauen ausgesprochen; 1909 wird
also der holländischen Frau Freiheit bringen. Jn diesem
Land erklärte Troelstra, der Führer der sozialdemokratischen
Partei, der letzte „balikluiver“ (Brückenlungerer) müsse
Stimmrecht bekommen, aber keine einzige Frau.

Die unglaubliche Prinzipienvernachlässigung der sozi-
alistischen Partei könnte ihr aber zukünftig ungeheueren
Schaden verursachen. Einerseits direkten Verlust von An-
hängern, die enttäuscht sind durch die Leichtigkeit, mit der
allerorten aus „taktischen Opportunitätsrücksichten“ das
Jnteresse der Frauen in die Ecke gestellt wird, wie ein
Stock, den man manchmal benützt, um sich darauf zu stützen,
ein andermal als Waffe der Abwehr gebraucht und ihn
dann nach Belieben wieder in die Ecke wirft. Viele be-
geisterte Gläubige haben sich trostlos von dieser Partei ab-
gewendet, weil sie ihre Haltung den Frauen gegenüber allzu
theoretisch fanden.

Andererseits hätte diese Partei den Einfluß der Kirche
zum größten Teil an sich reißen können, wenn sie ihrer
seinerzeitigen prinzipiellen Erklärung entsprechende tat-
sächliche Schritte getan hätte. Damals hätten sich noch
alle bürgerlichen Parteien gegen die Forderung gesträubt
und der sozialdemokratischen Partei wären alle in die Arme
gelaufen, die für die vollen Menschenrechte der Frau ein-
treten. Und das sind Millionen, die ihr so fern ge-
blieben sind.

Nun scheint aber die Sozialdemokratie doch darauf zu
kommen, daß sie es so nicht weiter treiben kann, und
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Wie ich aber bereits früher in Belgien erklärt habe, bleibe ich überzeugt, daß sogar im Hin- blick auf die Wahlresultate das Frauenwahlrecht nicht oder wenigstens nicht lange die Folgen zeitigen würde, welche die Klerikalen erhoffen und die Antiklerikalen fürchten. Gewiß: es wäre kindisch, zu verkennen, daß in der ersten Zeit nach Einführung des Frauenwahlrechts die Demokratie die Strafe dafür tragen muß, daß sie fast nichts für die politische und soziale Erziehung der Frauen geleistet und diese oft voll- ständig dem Einfluß der Kirche überlassen hat. Jedoch selbst in der Uebergangsperiode würde der Wahl- nutzen der Rechtsparteien nicht so groß sein, wie man gewöhnlich erwartet. Zunächst weil schon jetzt viele Männer so stimmen, wie es ihre Frauen wollen oder richtiger, wie es ihr Pfarrer will, der sich der Frauen als Vermittlerinnen seines Einflusses bedient. Jn derselben Erklärung betont Vandervelde, was die parteiunabhängige Frauenbewegung von jeher behauptet: „Von dem Augenblicke an, wo die Frauen wahlberechtigt sein werden, gewinnen alle Parteien ein Wahlinteresse – von höheren Erwägungen abgesehen – an der politischen Schulung des weiblichen Geschlechts. Es wäre vorbei mit der schmach- vollen Gleichgültigkeit, welche viele Demokraten und Sozialisten gegenüber dem Elend, der Unwissenheit, der geistigen Verwahr- losung der Hälfte der Menschheit an den Tag legen. Dank ihrer politischen Befreiung würde die Frau aus dem Schatten der Kirche in das volle Tageslicht des öffentlichen Lebens treten. Und – das ist meine unerschütterliche Ueberzeugung – indem die Kirche ihre letzte Reserve aufmarschieren ließe, würde sie für eine nahe Zukunft ihre endgültige Niederlage vorbereiten. Darum meine ich, daß die Konservativen sich die Sache zweimal über- legen werden, ehe sie für eine Reform stimmen, die ihren Prin- zipien widerstreitet. Die Sozialisten aber ihrerseits müssen es sich viermal überlegen, ehe sie eine Reform ablehnen, die ihr Programm fordert.“ Außer in Belgien wurde das Frauenstimmrecht im Parlament nirgends zuerst von der Sozialdemokratie ge- fordert. Jn den besten Fällen schloß diese sich anderen Parteien an, und in den meisten Ländern war ihr die Frage des Frauenstimmrechtes Luft. Als hätte sie nie grundsätzliche Erklärungen formuliert. Schließlich fehlte es nicht an Ländern, in denen die Sozialdemokratie für Parlamentsreformen scharf kämpfte und kämpft, ohne dem Frauenstimmrecht Aufmerksamkeit zu schenken, ja sogar mit bewußter, energischer Abwehr der von anderen Seiten, speziell der Frauenbewegung herandrängenden Forderung nach dem Frauenstimmrecht. So war es kürzlich in Oesterreich und so ist es jetzt in Ungarn. Die ungarische Sozialdemokratie hat in ihrem Zentralorgan wiederholt offen herausgesagt, sie halte die Einführung des Frauenstimmrechtes in Ungarn für total unzeitgemäß. Das in einer Zeit, wo es gilt, „allgemeines Wahlrecht“ einzuführen! Die liberale Partei in England hat gewiß viel gegen die politische Anständigkeit verbrochen, als sie sich Jahrzehntelang wie ein hungriger Kandidat an der Kost der in England kolossal starken politischen Frauen- bewegung stärkte und, als sie zur Macht kam, ihren Ver- sprechungen untreu wurde, wie der zur Anstellung gelangte Kandidat. Von dieser Partei sagte aber Sir Charles Mc Laren, einer der Parteiführer, sie würde es nicht wagen, das Frauenstimmrecht abzulehnen, wenn das Parlament sich mit irgend einer allgemeinen Wahlrechtsausdehnung zu befassen hätte. Nur außerhalb dieses Zusammenhanges wäre es möglich, die politische Gleichberechtigung der eng- lischen Frauen noch immer aufzuhalten. Aber nicht die Stimme Vanderveldes, noch anderer einsichtiger Sozialistenführer bringt den sich augenscheinlich vorbereitenden Umschwung innerhalb der Sozialdemokratie an die Oberfläche. Wichtigere Tatsachen drängen die Sozialdemokratie aus der ihrer Natur eigentlich zuwider- laufenden Unbeweglichkeit. Vor allem die sensationellen Ereignisse in Finnland, wo ausnahmslos alle Parteien für das auch auf die Frauen ausgedehnte allgemeine Stimmrecht mit vollem Erfolg ge- kämpft hatten. Neunzehn Frauen, auf alle Parteien ver- teilt, gelangten bei der ersten Gelegenheit in den finnischen Landtag. Dann das am 14. Juli vom norwegischen Storthing angenommene Frauenstimmrechtsgesetz, das bei der nächsten Wahl in Norwegen zweifellos auch Frauen ins Parlament bringen wird. Unter dem Einfluß dieser Ereignisse ist die Ver- wirklichung des Frauenstimmrechtes in Schweden, wo es vor kurzem abgelehnt wurde – sehr nachdrücklich auch von der sozialdemokratischen Partei – mehr als wahrscheinlich geworden. Jn Holland hat eine zur Vorbereitung der für 1909 geplanten Verfassungsrevision gewählte parlamentarische Kommission, in der alle politischen Parteien vertreten sind, sich mit Stimmenmehrheit für die vollständige politische Gleichberechtigung der Frauen ausgesprochen; 1909 wird also der holländischen Frau Freiheit bringen. Jn diesem Land erklärte Troelstra, der Führer der sozialdemokratischen Partei, der letzte „balikluiver“ (Brückenlungerer) müsse Stimmrecht bekommen, aber keine einzige Frau. Die unglaubliche Prinzipienvernachlässigung der sozi- alistischen Partei könnte ihr aber zukünftig ungeheueren Schaden verursachen. Einerseits direkten Verlust von An- hängern, die enttäuscht sind durch die Leichtigkeit, mit der allerorten aus „taktischen Opportunitätsrücksichten“ das Jnteresse der Frauen in die Ecke gestellt wird, wie ein Stock, den man manchmal benützt, um sich darauf zu stützen, ein andermal als Waffe der Abwehr gebraucht und ihn dann nach Belieben wieder in die Ecke wirft. Viele be- geisterte Gläubige haben sich trostlos von dieser Partei ab- gewendet, weil sie ihre Haltung den Frauen gegenüber allzu theoretisch fanden. Andererseits hätte diese Partei den Einfluß der Kirche zum größten Teil an sich reißen können, wenn sie ihrer seinerzeitigen prinzipiellen Erklärung entsprechende tat- sächliche Schritte getan hätte. Damals hätten sich noch alle bürgerlichen Parteien gegen die Forderung gesträubt und der sozialdemokratischen Partei wären alle in die Arme gelaufen, die für die vollen Menschenrechte der Frau ein- treten. Und das sind Millionen, die ihr so fern ge- blieben sind. Nun scheint aber die Sozialdemokratie doch darauf zu kommen, daß sie es so nicht weiter treiben kann, und interessante Momente deuten auf ein Erwachen aus der gefährlichen Untätigkeit hin. Es war z. B. lange Zeit hindurch Taktik der englischen Sozialisten, den Anträgen für das Frauenstimmrecht zu

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen : Bereitstellung der Texttranskription. (2020-02-21T14:09:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-02-21T14:09:16Z)

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Zitationshilfe: Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155, hier S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwimmer_sozialdemokratie_1907/2>, abgerufen am 24.11.2024.