Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Anhang. Anatolische Fragmente. Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage sollte nicht lange Anhang. Anatoliſche Fragmente. Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage ſollte nicht lange <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0258" n="226"/> <fw place="top" type="header">Anhang. Anatoliſche Fragmente.</fw><lb/> <p>Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage ſollte nicht lange<lb/> auf ſich warten laſſen und als zu San-Stefano der verhängniß-<lb/> volle Friede unterzeichnet war, erging ſich ein gut conſervatives<lb/> Stambuler Zeitungsblatt (Das „Baſſiret“) in nachfolgenden Aus-<lb/> einanderſetzungen und Bekenntniſſen: Die Geſchichte beweiſt, daß<lb/> die vom Kriegsglück nicht begünſtigten Nationen durch ihr Unglück<lb/> zur Selbſterkenntniß und zum Nachdenken gelangten. Sprechen<lb/> wir unſere Gedanken offen aus: Wir ſind beſiegt. Was aber<lb/> die wahre Urſache des Krieges war, und warum wir beſiegt<lb/> wurden, und weshalb die Niederlagen auf die osmaniſche Na-<lb/> tion einen ſo tiefen Eindruck machten: alles dies wußten wir<lb/> nicht und gaben uns auch keine Mühe, es zu ergründen, bevor<lb/> wir beſiegt waren. Jetzt ſehen wir es, und dies Erwachen<lb/> müſſen wir als einen großen Erfolg anſehen und daraus Nutzen<lb/> ziehen. Es wurde viel in den Zeitungen über die „Orient-<lb/> Frage“ und die damit in Verbindung ſtehende „Verbeſſerung des<lb/> Looſes der Chriſten“ geſchrieben, aber unſere Nation hielt die-<lb/> ſelben für alte Weibermärchen. Die Artikel, welche die Noth-<lb/> wendigkeit der Reformen betrafen, wurden wie Romane im Genre<lb/> von Leila und Medjun behandelt und man hielt es nicht der<lb/> Mühe werth ſie zu leſen. Die Urſache, welche unſere Augen<lb/> gegenüber dieſen Thatſachen blind machte, war aber die Un-<lb/> wiſſenheit, und dieſe iſt auch jetzt, nach den Ereigniſſen noch nicht<lb/> vollends aus unſerer Mitte verbannt. Unſere Lage gleicht nun-<lb/> mehr der eines Menſchen, der in einem langen Schlafe gelegen,<lb/> und auf die Theilnahmsloſigkeit folgte Verwirrung. Daß die<lb/> Unkenntniß aller Verhältniſſe an unſerem Unglücke die Haupt-<lb/> ſchuld trägt, läßt ſich leicht beweiſen, denn ihre Spuren ſind es,<lb/> die den Weg vom Gipfelpunkte unſeres Glücks bis zum Rande<lb/> des Verderbens bezeichnen. Hiezu kommt noch Aemterjagd, Be-<lb/> ſtechung, Egoismus, unzeitige Härte oder Milde, zweckloſe Gut-<lb/> müthigkeit, Verachtung jedweden anderen Erwerbes, der nicht<lb/> direct auf den Staatsſchatz abzielte, Abneigung gegen Handel,<lb/> Ackerbau und ähnliche Erwerbsthätigkeit. Seit den zweihundert<lb/> Jahren des Verfalls ſind durch unſere Unwiſſenheit Erſcheinungen<lb/> zu Tage getreten, wie ſie kein vernünftiger Menſch erwarten<lb/> würde. Da haben wir beiſpielsweiſe einen Kaufmann, der Kaffee<lb/> nach — Jemen ſchickt; einen Bevollmächtigten, welcher nicht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [226/0258]
Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage ſollte nicht lange
auf ſich warten laſſen und als zu San-Stefano der verhängniß-
volle Friede unterzeichnet war, erging ſich ein gut conſervatives
Stambuler Zeitungsblatt (Das „Baſſiret“) in nachfolgenden Aus-
einanderſetzungen und Bekenntniſſen: Die Geſchichte beweiſt, daß
die vom Kriegsglück nicht begünſtigten Nationen durch ihr Unglück
zur Selbſterkenntniß und zum Nachdenken gelangten. Sprechen
wir unſere Gedanken offen aus: Wir ſind beſiegt. Was aber
die wahre Urſache des Krieges war, und warum wir beſiegt
wurden, und weshalb die Niederlagen auf die osmaniſche Na-
tion einen ſo tiefen Eindruck machten: alles dies wußten wir
nicht und gaben uns auch keine Mühe, es zu ergründen, bevor
wir beſiegt waren. Jetzt ſehen wir es, und dies Erwachen
müſſen wir als einen großen Erfolg anſehen und daraus Nutzen
ziehen. Es wurde viel in den Zeitungen über die „Orient-
Frage“ und die damit in Verbindung ſtehende „Verbeſſerung des
Looſes der Chriſten“ geſchrieben, aber unſere Nation hielt die-
ſelben für alte Weibermärchen. Die Artikel, welche die Noth-
wendigkeit der Reformen betrafen, wurden wie Romane im Genre
von Leila und Medjun behandelt und man hielt es nicht der
Mühe werth ſie zu leſen. Die Urſache, welche unſere Augen
gegenüber dieſen Thatſachen blind machte, war aber die Un-
wiſſenheit, und dieſe iſt auch jetzt, nach den Ereigniſſen noch nicht
vollends aus unſerer Mitte verbannt. Unſere Lage gleicht nun-
mehr der eines Menſchen, der in einem langen Schlafe gelegen,
und auf die Theilnahmsloſigkeit folgte Verwirrung. Daß die
Unkenntniß aller Verhältniſſe an unſerem Unglücke die Haupt-
ſchuld trägt, läßt ſich leicht beweiſen, denn ihre Spuren ſind es,
die den Weg vom Gipfelpunkte unſeres Glücks bis zum Rande
des Verderbens bezeichnen. Hiezu kommt noch Aemterjagd, Be-
ſtechung, Egoismus, unzeitige Härte oder Milde, zweckloſe Gut-
müthigkeit, Verachtung jedweden anderen Erwerbes, der nicht
direct auf den Staatsſchatz abzielte, Abneigung gegen Handel,
Ackerbau und ähnliche Erwerbsthätigkeit. Seit den zweihundert
Jahren des Verfalls ſind durch unſere Unwiſſenheit Erſcheinungen
zu Tage getreten, wie ſie kein vernünftiger Menſch erwarten
würde. Da haben wir beiſpielsweiſe einen Kaufmann, der Kaffee
nach — Jemen ſchickt; einen Bevollmächtigten, welcher nicht
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