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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Anhang. Anatolische Fragmente.
brochenem Verkehre stehen, da werden sie ehestens von allen
Unternehmungen verdrängt, zumal auf den Inseln, wo heute das
türkische Element kaum mehr erwähnenswerth ist1.

Das griechische Uebergewicht herrscht aber selbstverständlich
nur an den Küstenstrecken und in einzelnen Strichen des Inneren,
die von der Küste nicht zu sehr entlegen sind. Südlich und
östlich von der Provinz Smyrna hören, bis auf einzelne Colonien,
die Griechen auf2 und an ihre Stelle treten die compacten Massen
der Türken, die in Anatolien den Stock der Bevölkerung bilden.
Auf sie vermag sich bis auf weiteres noch die Osmaniden-Herr-
schaft zu stützen, denn wenn auch das dynastische Gefühl bei den
moslemischen Binnenländlern nicht so ausgeprägt ist, als man
im Abendlande gemeinhin annimmt, so sind ihre bürgerlichen und
militärischen Tugenden immerhin darnach, daß man die ana-
tolischen Türken als ein schätzenswerthes Material betrachten
kann. Die windigen Stambuler Effendis denken hiebei freilich
anders, und wenn sie der kernigen Gestalten auch sehr bedürfen,
um deren Knochen für die verfahrene Serailpolitik zu Markte
zu tragen, so spötteln sie dennoch daheim über die rauhen und
rohen Natursöhne3. Dafür aber haben diese selben Spötter, die
nicht einmal ihr Blut zu achten und zu schätzen verstehen, auch
dieses, ihr eigenes Volk so gut zu Grunde gerichtet, wie irgend
wo im Reiche die verachtete christliche Raja, und daß dem so ist,
das hat sich in mancher öffentlichen Kundgebung in den untern
Schichten des türkischen Volkes während der letzten bewegten
Jahre klar und überzeugend dargethan.

Auch in anderer Hinsicht lastet nur auf den Regierungs-
organen die Schuld an all' den jämmerlichen Zuständen, wie sie
in Anatolien zum Ausdrucke gelangen. So ist beispielsweise im
ganzen Lande nirgends von einem rationellen Volksschulwesen
die Rede, begreiflicherweise, da die betreffenden Schulbehörden
-- wenn sie überhaupt amtiren -- in Stambul etwas anderes
zu thun haben, als sich mit der Organisation des, für die Er-
ziehung des Volkes so nothwendigen Primär-Unterrichts zu

1 F. v. Löher, "Griechische Küstenfahrten", 252.
2 v. Scherzer, a. a. O., 49.
3 Murad Effendi, "Türkische Skizzen", I, 236.

Anhang. Anatoliſche Fragmente.
brochenem Verkehre ſtehen, da werden ſie eheſtens von allen
Unternehmungen verdrängt, zumal auf den Inſeln, wo heute das
türkiſche Element kaum mehr erwähnenswerth iſt1.

Das griechiſche Uebergewicht herrſcht aber ſelbſtverſtändlich
nur an den Küſtenſtrecken und in einzelnen Strichen des Inneren,
die von der Küſte nicht zu ſehr entlegen ſind. Südlich und
öſtlich von der Provinz Smyrna hören, bis auf einzelne Colonien,
die Griechen auf2 und an ihre Stelle treten die compacten Maſſen
der Türken, die in Anatolien den Stock der Bevölkerung bilden.
Auf ſie vermag ſich bis auf weiteres noch die Osmaniden-Herr-
ſchaft zu ſtützen, denn wenn auch das dynaſtiſche Gefühl bei den
moslemiſchen Binnenländlern nicht ſo ausgeprägt iſt, als man
im Abendlande gemeinhin annimmt, ſo ſind ihre bürgerlichen und
militäriſchen Tugenden immerhin darnach, daß man die ana-
toliſchen Türken als ein ſchätzenswerthes Material betrachten
kann. Die windigen Stambuler Effendis denken hiebei freilich
anders, und wenn ſie der kernigen Geſtalten auch ſehr bedürfen,
um deren Knochen für die verfahrene Serailpolitik zu Markte
zu tragen, ſo ſpötteln ſie dennoch daheim über die rauhen und
rohen Naturſöhne3. Dafür aber haben dieſe ſelben Spötter, die
nicht einmal ihr Blut zu achten und zu ſchätzen verſtehen, auch
dieſes, ihr eigenes Volk ſo gut zu Grunde gerichtet, wie irgend
wo im Reiche die verachtete chriſtliche Raja, und daß dem ſo iſt,
das hat ſich in mancher öffentlichen Kundgebung in den untern
Schichten des türkiſchen Volkes während der letzten bewegten
Jahre klar und überzeugend dargethan.

Auch in anderer Hinſicht laſtet nur auf den Regierungs-
organen die Schuld an all’ den jämmerlichen Zuſtänden, wie ſie
in Anatolien zum Ausdrucke gelangen. So iſt beiſpielsweiſe im
ganzen Lande nirgends von einem rationellen Volksſchulweſen
die Rede, begreiflicherweiſe, da die betreffenden Schulbehörden
— wenn ſie überhaupt amtiren — in Stambul etwas anderes
zu thun haben, als ſich mit der Organiſation des, für die Er-
ziehung des Volkes ſo nothwendigen Primär-Unterrichts zu

1 F. v. Löher, „Griechiſche Küſtenfahrten“, 252.
2 v. Scherzer, a. a. O., 49.
3 Murad Effendi, „Türkiſche Skizzen“, I, 236.
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[220/0252] Anhang. Anatoliſche Fragmente. brochenem Verkehre ſtehen, da werden ſie eheſtens von allen Unternehmungen verdrängt, zumal auf den Inſeln, wo heute das türkiſche Element kaum mehr erwähnenswerth iſt 1. Das griechiſche Uebergewicht herrſcht aber ſelbſtverſtändlich nur an den Küſtenſtrecken und in einzelnen Strichen des Inneren, die von der Küſte nicht zu ſehr entlegen ſind. Südlich und öſtlich von der Provinz Smyrna hören, bis auf einzelne Colonien, die Griechen auf 2 und an ihre Stelle treten die compacten Maſſen der Türken, die in Anatolien den Stock der Bevölkerung bilden. Auf ſie vermag ſich bis auf weiteres noch die Osmaniden-Herr- ſchaft zu ſtützen, denn wenn auch das dynaſtiſche Gefühl bei den moslemiſchen Binnenländlern nicht ſo ausgeprägt iſt, als man im Abendlande gemeinhin annimmt, ſo ſind ihre bürgerlichen und militäriſchen Tugenden immerhin darnach, daß man die ana- toliſchen Türken als ein ſchätzenswerthes Material betrachten kann. Die windigen Stambuler Effendis denken hiebei freilich anders, und wenn ſie der kernigen Geſtalten auch ſehr bedürfen, um deren Knochen für die verfahrene Serailpolitik zu Markte zu tragen, ſo ſpötteln ſie dennoch daheim über die rauhen und rohen Naturſöhne 3. Dafür aber haben dieſe ſelben Spötter, die nicht einmal ihr Blut zu achten und zu ſchätzen verſtehen, auch dieſes, ihr eigenes Volk ſo gut zu Grunde gerichtet, wie irgend wo im Reiche die verachtete chriſtliche Raja, und daß dem ſo iſt, das hat ſich in mancher öffentlichen Kundgebung in den untern Schichten des türkiſchen Volkes während der letzten bewegten Jahre klar und überzeugend dargethan. Auch in anderer Hinſicht laſtet nur auf den Regierungs- organen die Schuld an all’ den jämmerlichen Zuſtänden, wie ſie in Anatolien zum Ausdrucke gelangen. So iſt beiſpielsweiſe im ganzen Lande nirgends von einem rationellen Volksſchulweſen die Rede, begreiflicherweiſe, da die betreffenden Schulbehörden — wenn ſie überhaupt amtiren — in Stambul etwas anderes zu thun haben, als ſich mit der Organiſation des, für die Er- ziehung des Volkes ſo nothwendigen Primär-Unterrichts zu 1 F. v. Löher, „Griechiſche Küſtenfahrten“, 252. 2 v. Scherzer, a. a. O., 49. 3 Murad Effendi, „Türkiſche Skizzen“, I, 236.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/252>, abgerufen am 22.11.2024.