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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Anhang. Anatolische Fragmente.
der heutigen Verwaltung dürften es indeß kaum sein, die dieses
Gebiet nach vielfacher Verwüstung wieder einiger Cultur und
Blüthe zuführten. Ja zum Theile ist es das Volk selbst, welches
nach den letzten Erfahrungen in Betreff der europäischen Neue-
rungen für diese begreiflicherweise nur wenig erbaut sein konnte,
das sich gegenüber fremden Bemühungen, Cultur und Ge-
sittung in diese Länder zu tragen verwahrte, wie beispielsweise die
Bewohner der Stadt Amasia, der wir uns nun auf unserem Wege
bis zur uralten Culturstätte am Pontus, Sinope, zuwenden.

Bislang war Amasia nur dadurch berühmt, die Geburtsstadt
Strabos zu sein1. Die uralte helleno-pontische Binnenstadt ist
freilich, bis auf den Namen, den wundersamer Weise die vielen
Völkerstürme nicht verwischen konnten, nahezu spurlos vom Erd-
boden verschwunden, ausgenommen eine als antik geltende Quader-
Brücke, welche heute die zu beiden Seiten des Flusses gelegenen
Stadttheile mit einander verbindet, und dann die alte Königs-
nekropole zu Häupten des abenteuerlich geformten Castells, gleich-
falls ein Bau, der in ferne sagenhafte Zeit fällt. Wie viele
gibt es aber unter uns Abendländern, die diesen jahrhundert-
jährigen Tummelplatz der Völker auch nur dem Namen nach
kennen, trotzdem sie der Schauplatz eines vermeintlich türkischen
National-Epos ist? Erst neuester Zeit wurde Amasia des
öftern genannt und wie so oft, hat auch diesmal ein ziemlich
obscurer Ort dadurch einigen Glanz bekommen, daß er der Ge-
burtsstadt eines Tageshelden galt; diesfalls des Vertheidigers von
Plewna, Osman Pascha. Gleichwohl wäre es eine arge Illusion,
sich durch diese Thatsache irgendwie enthusiasmiren zu lassen, denn
soviel uns heute bekannt ist, genießt Amasia, welches noch die
orientalischen Schriftsteller des Mittelalters die "Stadt der
Philosophen" nennen, gleich Kutachia, den Ruf, eine der gefähr-
lichsten Brutstätten moslemischen Fanatismus zu sein. Als sich
vor mehreren Jahren eine schweizerische Firma in der Stadt
etablirte, um die altberühmte Seidenindustrie, die seinerzeit in
Kleinasien unerreicht dastand, wiederzubeleben, betrieb man selbstver-
ständlich auch die Tödtung der Cocons rationeller, als es bisher

1 Strabo XII.

Anhang. Anatoliſche Fragmente.
der heutigen Verwaltung dürften es indeß kaum ſein, die dieſes
Gebiet nach vielfacher Verwüſtung wieder einiger Cultur und
Blüthe zuführten. Ja zum Theile iſt es das Volk ſelbſt, welches
nach den letzten Erfahrungen in Betreff der europäiſchen Neue-
rungen für dieſe begreiflicherweiſe nur wenig erbaut ſein konnte,
das ſich gegenüber fremden Bemühungen, Cultur und Ge-
ſittung in dieſe Länder zu tragen verwahrte, wie beiſpielsweiſe die
Bewohner der Stadt Amaſia, der wir uns nun auf unſerem Wege
bis zur uralten Culturſtätte am Pontus, Sinope, zuwenden.

Bislang war Amaſia nur dadurch berühmt, die Geburtsſtadt
Strabos zu ſein1. Die uralte helleno-pontiſche Binnenſtadt iſt
freilich, bis auf den Namen, den wunderſamer Weiſe die vielen
Völkerſtürme nicht verwiſchen konnten, nahezu ſpurlos vom Erd-
boden verſchwunden, ausgenommen eine als antik geltende Quader-
Brücke, welche heute die zu beiden Seiten des Fluſſes gelegenen
Stadttheile mit einander verbindet, und dann die alte Königs-
nekropole zu Häupten des abenteuerlich geformten Caſtells, gleich-
falls ein Bau, der in ferne ſagenhafte Zeit fällt. Wie viele
gibt es aber unter uns Abendländern, die dieſen jahrhundert-
jährigen Tummelplatz der Völker auch nur dem Namen nach
kennen, trotzdem ſie der Schauplatz eines vermeintlich türkiſchen
National-Epos iſt? Erſt neueſter Zeit wurde Amaſia des
öftern genannt und wie ſo oft, hat auch diesmal ein ziemlich
obſcurer Ort dadurch einigen Glanz bekommen, daß er der Ge-
burtsſtadt eines Tageshelden galt; diesfalls des Vertheidigers von
Plewna, Osman Paſcha. Gleichwohl wäre es eine arge Illuſion,
ſich durch dieſe Thatſache irgendwie enthuſiasmiren zu laſſen, denn
ſoviel uns heute bekannt iſt, genießt Amaſia, welches noch die
orientaliſchen Schriftſteller des Mittelalters die „Stadt der
Philoſophen“ nennen, gleich Kutachia, den Ruf, eine der gefähr-
lichſten Brutſtätten moslemiſchen Fanatismus zu ſein. Als ſich
vor mehreren Jahren eine ſchweizeriſche Firma in der Stadt
etablirte, um die altberühmte Seideninduſtrie, die ſeinerzeit in
Kleinaſien unerreicht daſtand, wiederzubeleben, betrieb man ſelbſtver-
ſtändlich auch die Tödtung der Cocons rationeller, als es bisher

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[190/0222] Anhang. Anatoliſche Fragmente. der heutigen Verwaltung dürften es indeß kaum ſein, die dieſes Gebiet nach vielfacher Verwüſtung wieder einiger Cultur und Blüthe zuführten. Ja zum Theile iſt es das Volk ſelbſt, welches nach den letzten Erfahrungen in Betreff der europäiſchen Neue- rungen für dieſe begreiflicherweiſe nur wenig erbaut ſein konnte, das ſich gegenüber fremden Bemühungen, Cultur und Ge- ſittung in dieſe Länder zu tragen verwahrte, wie beiſpielsweiſe die Bewohner der Stadt Amaſia, der wir uns nun auf unſerem Wege bis zur uralten Culturſtätte am Pontus, Sinope, zuwenden. Bislang war Amaſia nur dadurch berühmt, die Geburtsſtadt Strabos zu ſein 1. Die uralte helleno-pontiſche Binnenſtadt iſt freilich, bis auf den Namen, den wunderſamer Weiſe die vielen Völkerſtürme nicht verwiſchen konnten, nahezu ſpurlos vom Erd- boden verſchwunden, ausgenommen eine als antik geltende Quader- Brücke, welche heute die zu beiden Seiten des Fluſſes gelegenen Stadttheile mit einander verbindet, und dann die alte Königs- nekropole zu Häupten des abenteuerlich geformten Caſtells, gleich- falls ein Bau, der in ferne ſagenhafte Zeit fällt. Wie viele gibt es aber unter uns Abendländern, die dieſen jahrhundert- jährigen Tummelplatz der Völker auch nur dem Namen nach kennen, trotzdem ſie der Schauplatz eines vermeintlich türkiſchen National-Epos iſt? Erſt neueſter Zeit wurde Amaſia des öftern genannt und wie ſo oft, hat auch diesmal ein ziemlich obſcurer Ort dadurch einigen Glanz bekommen, daß er der Ge- burtsſtadt eines Tageshelden galt; diesfalls des Vertheidigers von Plewna, Osman Paſcha. Gleichwohl wäre es eine arge Illuſion, ſich durch dieſe Thatſache irgendwie enthuſiasmiren zu laſſen, denn ſoviel uns heute bekannt iſt, genießt Amaſia, welches noch die orientaliſchen Schriftſteller des Mittelalters die „Stadt der Philoſophen“ nennen, gleich Kutachia, den Ruf, eine der gefähr- lichſten Brutſtätten moslemiſchen Fanatismus zu ſein. Als ſich vor mehreren Jahren eine ſchweizeriſche Firma in der Stadt etablirte, um die altberühmte Seideninduſtrie, die ſeinerzeit in Kleinaſien unerreicht daſtand, wiederzubeleben, betrieb man ſelbſtver- ſtändlich auch die Tödtung der Cocons rationeller, als es bisher 1 Strabo XII.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/222>, abgerufen am 24.11.2024.