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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Anhang. Anatolische Fragmente.

Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichste in der Ver-
himmlung des Menschen geleistet. Während das Christenthum
in der Person seiner obersten Schutzherren -- unbeschadet ver-
schiedener ritueller Opponenten -- der römischen Päpste, Gläu-
bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canonisirte,
konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver-
meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von
der größten politischen Tragweite werden. Es erscheint dies er-
klärlich, wenn man berücksichtigt, wie sehr sich bei den mos-
lemischen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus
ist im türkischen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die
angebliche Vaterlandsliebe ist eigentlich nichts anderes, als eine
religiöse Glaubenstreue. Darum hatte dieses Volk auch seit
jeher keinerlei Sinn für seine großen historischen Persönlichkeiten,
für seine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an
sie würde mit der Zeit geschwunden sein, hätte es nicht jederzeit
wohlbestallte kaiserlich ottomanische Reichshistoriographen, wie
Lufti, Essad u. A. gegeben, die gegen ein anständiges Jahres-
salair für die Unsterblichkeit der großen Patrioten der Türkei
Sorge trugen. Um so größere Aufmerksamkeit widmen die Os-
manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendsten
mit dem Namen "Nationalheilige" belegen könnte und deren
Verdienst um die Machtentfaltung der Türkenherrschaft von den
Rechtgläubigen dankbarst anerkannt wird. Von diesen sind ihnen
namentlich zwei unvergeßlich: Dschelaleddin Rumi1 und Hadschi
Begtasch, Zeitgenossen der ersten Osmanen-Sultane und somit
gewissermaßen Mitbegründer der Dynastie, der sie durch ihre
Gottähnlichkeit auf ihrem ersten Lebenswege leuchteten.

1 Dieser Asket, Dichter und Philosoph zugleich, war eine der ersten
Verkörperungen jener pantheistischen Naturreligion, welche sich zum soge-
nannten "Sufismus" ausbildete, und namentlich in Persien mit der Zeit
die weiteste Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieser Lehre erklärten
und erklären, daß Gott in jedem Dinge sei, und daß jedes Ding, wenn
es die Göttlichkeit in sich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne.
Die elementare Macht, mit der sich diese Schwärmer den engen Schranken
der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigsten Verfol-
gungen, sieghaft über die Massen, zumal durch angebliche Wunder, welche
einzelne Märtyrer des Sufismus in Persien zum Besten gaben. So
Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver-
himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum
in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren — unbeſchadet ver-
ſchiedener ritueller Opponenten — der römiſchen Päpſte, Gläu-
bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte,
konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver-
meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von
der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er-
klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos-
lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus
iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die
angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine
religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit
jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten,
für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an
ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit
wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie
Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres-
ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei
Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os-
manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten
mit dem Namen „Nationalheilige“ belegen könnte und deren
Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den
Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen
namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi1 und Hadſchi
Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit
gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre
Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten.

1 Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten
Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge-
nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit
die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten
und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn
es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne.
Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken
der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol-
gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche
einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So
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[180/0212] Anhang. Anatoliſche Fragmente. Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver- himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren — unbeſchadet ver- ſchiedener ritueller Opponenten — der römiſchen Päpſte, Gläu- bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte, konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver- meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er- klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos- lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten, für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres- ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os- manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten mit dem Namen „Nationalheilige“ belegen könnte und deren Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi 1 und Hadſchi Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten. 1 Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge- nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne. Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol- gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/212>, abgerufen am 28.04.2024.