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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Hellespont und Ilion.
Füßen und im Süden die Thalebene des Ida, der sich dorthin
in großen, üppig bewachsenen Stufen hinabsenkt! Und da sind
auch die Schluchten und Abgründe, das Buschwerk und die
Schlinggewächse, von denen der Dichter gelegentlich des Wett-
laufes zwischen Achill und Hector spricht und westwärts erblickt
man den Höhenrücken von Tenedos, hinter welcher Insel die
Griechen mit ihren Schiffen verborgen lagen. Schwer wird es,
sich von diesem Bilde loszureißen, und noch schwerer, Localitäten,
mit denen wir die Iliade innig verwoben wähnten, durch den
Machtspruch der Forschung dieses Zaubers schonungslos ent-
kleidet zu sehen 1.

Drüben, jenseit des Skamanders, und zwar in nördlicher
Richtung, befindet sich auf flacher Höhe die Stätte von Hissarlik
-- Schliemanns Ilion. Um dahin zu gelangen, muß der Rück-
weg nach Bunarbaschi genommen werden und so vermag das
trunkene Auge sich noch einmal in die erhebenden landschaftlichen
Reize zu versenken. Rauschend durchströmt der Skamander das
Gefilde, seine Ufer beschattet von einzelnen Kronen; weit im
Südosten das Waldesdunkel des Götterberges, von dessen Scheitel
der "himmelentsprossene" Fluß in Silbercascaden niederstürzt.
Hiezu ein Blick auf den tiefblauen Spiegel des Aegäischen Meeres,
unterbrochen von den dunklen Inselrücken Imbros und Samo-
thrake, bis er zuletzt auf dem goldstrahlenden Athos haftet, der,
von der Gloriole der Abenddämmerung umwoben, gleich einem
feenhaften Luftgebilde in den Purpurtönen der Ferne ver-
schwimmt ...

Welcher Gegensatz nun auf der Stätte von Hissarlik! Tiefste
Stille, eine wahrhaftige Kirchhofsruhe gegenüber jenem vollpul-
senden Leben der Natur zu Bunarbaschi. Allenthalben stößt der
Fuß des Wanderers auf die ruinenhaften Reste türkischer Dörfer
und auf verwahrloste mohammedanische Friedhöfe mit ihren ver-

1 Der Zweifel ist gleichwohl noch nicht gelöst. Berühmte Alterthums-
forscher, wie Welcker, Curtius u. A. halten noch immer zur alten Ansicht.
(Vgl. Gelzer, "Eine Wanderung nach Troja", 19. -- Hertel, "Troja und
Ithaka", a. a. O. "Wiener Abendpost" Nr. 65, 1877.) Ueber die Iden-
tität der Oertlichkeit von Ilion und Neu-Ilion, bei J. Braun, "Geschichte
der Kunst", II, 206.

Hellespont und Ilion.
Füßen und im Süden die Thalebene des Ida, der ſich dorthin
in großen, üppig bewachſenen Stufen hinabſenkt! Und da ſind
auch die Schluchten und Abgründe, das Buſchwerk und die
Schlinggewächſe, von denen der Dichter gelegentlich des Wett-
laufes zwiſchen Achill und Hector ſpricht und weſtwärts erblickt
man den Höhenrücken von Tenedos, hinter welcher Inſel die
Griechen mit ihren Schiffen verborgen lagen. Schwer wird es,
ſich von dieſem Bilde loszureißen, und noch ſchwerer, Localitäten,
mit denen wir die Iliade innig verwoben wähnten, durch den
Machtſpruch der Forſchung dieſes Zaubers ſchonungslos ent-
kleidet zu ſehen 1.

Drüben, jenſeit des Skamanders, und zwar in nördlicher
Richtung, befindet ſich auf flacher Höhe die Stätte von Hiſſarlik
— Schliemanns Ilion. Um dahin zu gelangen, muß der Rück-
weg nach Bunarbaſchi genommen werden und ſo vermag das
trunkene Auge ſich noch einmal in die erhebenden landſchaftlichen
Reize zu verſenken. Rauſchend durchſtrömt der Skamander das
Gefilde, ſeine Ufer beſchattet von einzelnen Kronen; weit im
Südoſten das Waldesdunkel des Götterberges, von deſſen Scheitel
der „himmelentſproſſene“ Fluß in Silbercascaden niederſtürzt.
Hiezu ein Blick auf den tiefblauen Spiegel des Aegäiſchen Meeres,
unterbrochen von den dunklen Inſelrücken Imbros und Samo-
thrake, bis er zuletzt auf dem goldſtrahlenden Athos haftet, der,
von der Gloriole der Abenddämmerung umwoben, gleich einem
feenhaften Luftgebilde in den Purpurtönen der Ferne ver-
ſchwimmt …

Welcher Gegenſatz nun auf der Stätte von Hiſſarlik! Tiefſte
Stille, eine wahrhaftige Kirchhofsruhe gegenüber jenem vollpul-
ſenden Leben der Natur zu Bunarbaſchi. Allenthalben ſtößt der
Fuß des Wanderers auf die ruinenhaften Reſte türkiſcher Dörfer
und auf verwahrloſte mohammedaniſche Friedhöfe mit ihren ver-

1 Der Zweifel iſt gleichwohl noch nicht gelöſt. Berühmte Alterthums-
forſcher, wie Welcker, Curtius u. A. halten noch immer zur alten Anſicht.
(Vgl. Gelzer, „Eine Wanderung nach Troja“, 19. — Hertel, „Troja und
Ithaka“, a. a. O. „Wiener Abendpoſt“ Nr. 65, 1877.) Ueber die Iden-
tität der Oertlichkeit von Ilion und Neu-Ilion, bei J. Braun, „Geſchichte
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[165/0197] Hellespont und Ilion. Füßen und im Süden die Thalebene des Ida, der ſich dorthin in großen, üppig bewachſenen Stufen hinabſenkt! Und da ſind auch die Schluchten und Abgründe, das Buſchwerk und die Schlinggewächſe, von denen der Dichter gelegentlich des Wett- laufes zwiſchen Achill und Hector ſpricht und weſtwärts erblickt man den Höhenrücken von Tenedos, hinter welcher Inſel die Griechen mit ihren Schiffen verborgen lagen. Schwer wird es, ſich von dieſem Bilde loszureißen, und noch ſchwerer, Localitäten, mit denen wir die Iliade innig verwoben wähnten, durch den Machtſpruch der Forſchung dieſes Zaubers ſchonungslos ent- kleidet zu ſehen 1. Drüben, jenſeit des Skamanders, und zwar in nördlicher Richtung, befindet ſich auf flacher Höhe die Stätte von Hiſſarlik — Schliemanns Ilion. Um dahin zu gelangen, muß der Rück- weg nach Bunarbaſchi genommen werden und ſo vermag das trunkene Auge ſich noch einmal in die erhebenden landſchaftlichen Reize zu verſenken. Rauſchend durchſtrömt der Skamander das Gefilde, ſeine Ufer beſchattet von einzelnen Kronen; weit im Südoſten das Waldesdunkel des Götterberges, von deſſen Scheitel der „himmelentſproſſene“ Fluß in Silbercascaden niederſtürzt. Hiezu ein Blick auf den tiefblauen Spiegel des Aegäiſchen Meeres, unterbrochen von den dunklen Inſelrücken Imbros und Samo- thrake, bis er zuletzt auf dem goldſtrahlenden Athos haftet, der, von der Gloriole der Abenddämmerung umwoben, gleich einem feenhaften Luftgebilde in den Purpurtönen der Ferne ver- ſchwimmt … Welcher Gegenſatz nun auf der Stätte von Hiſſarlik! Tiefſte Stille, eine wahrhaftige Kirchhofsruhe gegenüber jenem vollpul- ſenden Leben der Natur zu Bunarbaſchi. Allenthalben ſtößt der Fuß des Wanderers auf die ruinenhaften Reſte türkiſcher Dörfer und auf verwahrloſte mohammedaniſche Friedhöfe mit ihren ver- 1 Der Zweifel iſt gleichwohl noch nicht gelöſt. Berühmte Alterthums- forſcher, wie Welcker, Curtius u. A. halten noch immer zur alten Anſicht. (Vgl. Gelzer, „Eine Wanderung nach Troja“, 19. — Hertel, „Troja und Ithaka“, a. a. O. „Wiener Abendpoſt“ Nr. 65, 1877.) Ueber die Iden- tität der Oertlichkeit von Ilion und Neu-Ilion, bei J. Braun, „Geſchichte der Kunſt“, II, 206.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/197>, abgerufen am 25.11.2024.