Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck
erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, so riß
sie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade
zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen.

Inzwischen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort,
und begehrte umsonst nach dem entfernten Feind. Sein
Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es sich
geborgen, und flatterte, von Turnus ungesehen, in die
Luft. Als dieser seinen Feind nicht fand, und vom Mee¬
reswirbel dahingerissen wurde, schaute er nach dem Lande
zurück, rathlos und ohne Dank für seine Rettung. "All¬
mächtiger Vater," rief er, die Hände gen Himmel er¬
hend, "hieltest du mich so großer Schande würdig,
wolltest du mich so hart bestrafen? Alle meine Freunde
habe ich im grausamen Todeskampfe zurückgelassen: wie
kehr' ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund
sich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an
einer Klippe zerschellten!" Erst gedachte er sich ins Schwert
zu stürzen, und hatte es schon aus der Scheide gezogen,
doch ein Versuch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte
ihm für diese selbst ersprießlicher, und so sprang er, ge¬
waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die
Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit sich
fort, und erst bei seiner Vaterstadt Ardea spülten ihn die
Wellen ans Land.

Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort.
Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber
der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬
tius, der wildeste Bundesgenosse der Rutuler, der bisher
bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und
stürzte sich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren

auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck
erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, ſo riß
ſie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade
zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen.

Inzwiſchen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort,
und begehrte umſonſt nach dem entfernten Feind. Sein
Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es ſich
geborgen, und flatterte, von Turnus ungeſehen, in die
Luft. Als dieſer ſeinen Feind nicht fand, und vom Mee¬
reswirbel dahingeriſſen wurde, ſchaute er nach dem Lande
zurück, rathlos und ohne Dank für ſeine Rettung. „All¬
mächtiger Vater,“ rief er, die Hände gen Himmel er¬
hend, „hielteſt du mich ſo großer Schande würdig,
wollteſt du mich ſo hart beſtrafen? Alle meine Freunde
habe ich im grauſamen Todeskampfe zurückgelaſſen: wie
kehr' ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund
ſich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an
einer Klippe zerſchellten!“ Erſt gedachte er ſich ins Schwert
zu ſtürzen, und hatte es ſchon aus der Scheide gezogen,
doch ein Verſuch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte
ihm für dieſe ſelbſt erſprießlicher, und ſo ſprang er, ge¬
waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die
Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit ſich
fort, und erſt bei ſeiner Vaterſtadt Ardea ſpülten ihn die
Wellen ans Land.

Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort.
Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber
der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬
tius, der wildeſte Bundesgenoſſe der Rutuler, der bisher
bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und
ſtürzte ſich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0418" n="396"/>
auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck<lb/>
erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, &#x017F;o riß<lb/>
&#x017F;ie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade<lb/>
zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen.</p><lb/>
            <p>Inzwi&#x017F;chen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort,<lb/>
und begehrte um&#x017F;on&#x017F;t nach dem entfernten Feind. Sein<lb/>
Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es &#x017F;ich<lb/>
geborgen, und flatterte, von Turnus unge&#x017F;ehen, in die<lb/>
Luft. Als die&#x017F;er &#x017F;einen Feind nicht fand, und vom Mee¬<lb/>
reswirbel dahingeri&#x017F;&#x017F;en wurde, &#x017F;chaute er nach dem Lande<lb/>
zurück, rathlos und ohne Dank für &#x017F;eine Rettung. &#x201E;All¬<lb/>
mächtiger Vater,&#x201C; rief er, die Hände gen Himmel er¬<lb/>
hend, &#x201E;hielte&#x017F;t du mich &#x017F;o großer Schande würdig,<lb/>
wollte&#x017F;t du mich &#x017F;o hart be&#x017F;trafen? Alle meine Freunde<lb/>
habe ich im grau&#x017F;amen Todeskampfe zurückgela&#x017F;&#x017F;en: wie<lb/>
kehr' ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund<lb/>
&#x017F;ich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an<lb/>
einer Klippe zer&#x017F;chellten!&#x201C; Er&#x017F;t gedachte er &#x017F;ich ins Schwert<lb/>
zu &#x017F;türzen, und hatte es &#x017F;chon aus der Scheide gezogen,<lb/>
doch ein Ver&#x017F;uch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte<lb/>
ihm für die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t er&#x017F;prießlicher, und &#x017F;o &#x017F;prang er, ge¬<lb/>
waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die<lb/>
Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit &#x017F;ich<lb/>
fort, und er&#x017F;t bei &#x017F;einer Vater&#x017F;tadt Ardea &#x017F;pülten ihn die<lb/>
Wellen ans Land.</p><lb/>
            <p>Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort.<lb/>
Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber<lb/>
der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬<lb/>
tius, der wilde&#x017F;te Bundesgeno&#x017F;&#x017F;e der Rutuler, der bisher<lb/>
bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und<lb/>
&#x017F;türzte &#x017F;ich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[396/0418] auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, ſo riß ſie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen. Inzwiſchen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort, und begehrte umſonſt nach dem entfernten Feind. Sein Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es ſich geborgen, und flatterte, von Turnus ungeſehen, in die Luft. Als dieſer ſeinen Feind nicht fand, und vom Mee¬ reswirbel dahingeriſſen wurde, ſchaute er nach dem Lande zurück, rathlos und ohne Dank für ſeine Rettung. „All¬ mächtiger Vater,“ rief er, die Hände gen Himmel er¬ hend, „hielteſt du mich ſo großer Schande würdig, wollteſt du mich ſo hart beſtrafen? Alle meine Freunde habe ich im grauſamen Todeskampfe zurückgelaſſen: wie kehr' ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund ſich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an einer Klippe zerſchellten!“ Erſt gedachte er ſich ins Schwert zu ſtürzen, und hatte es ſchon aus der Scheide gezogen, doch ein Verſuch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte ihm für dieſe ſelbſt erſprießlicher, und ſo ſprang er, ge¬ waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit ſich fort, und erſt bei ſeiner Vaterſtadt Ardea ſpülten ihn die Wellen ans Land. Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort. Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬ tius, der wildeſte Bundesgenoſſe der Rutuler, der bisher bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und ſtürzte ſich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/418
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/418>, abgerufen am 16.06.2024.