Elektra führte inzwischen im Königspallaste ihres ermordeten Vaters das traurigste Leben, und nur die Hoffnung, ihren Bruder einst, zum Manne herange¬ wachsen, als Rächer in den väterlichen Hallen erscheinen zu sehen, fristete ihr kummervolles Daseyn. Von der Mutter wurde ihr die bitterste Feindschaft zu Theil; im eigenen Stammhause mußte sie mit den Mördern ihres Vaters wohnen und ihnen in Allem unterwürfig seyn; auf sie kam es an, ob sie darben, oder den nothdürftigen Unterhalt empfangen sollte. Auf dem Thron Agamem¬ nons sah sie den Aegisthus in königlicher Herrlichkeit sitzen, sah ihn in dessen schönste Gewande, welche die Vorrathskammern des Pallastes füllten, gekleidet, ein¬ hergehen, und den Schutzgöttern des Hauses an derselben Stelle Trankopfer spenden, wo er seinen Blutsverwandten ermordet hatte. Sie war Zeuge der zärtlichen Vertrau¬ lichkeit, mit welcher die freche Mutter den Besudelten behandelte; denn diese, mit Lächeln über das hinschlü¬ pfend, was sie Gräuliches begangen hatte, ordnete all¬ jährlich Festreigen an dem Tage an, an welchem sie den Gatten trügerisch dahingewürgt, und brachte noch dazu den Rettungsgöttern jeden Monat reichliche Schlachtopfer dar. Die Jungfrau verzehrte sich bei diesem empörenden Anblicke in geheimem Gram, denn es war ihr nicht einmal frei zu weinen vergönnt, so sehr ihr Herz darnach begehrte. "Was weinst du, Gott¬ verhaßte," rief ihr die Mutter zornig zu, so oft sie
Agamemnon gerächt.
Elektra führte inzwiſchen im Königspallaſte ihres ermordeten Vaters das traurigſte Leben, und nur die Hoffnung, ihren Bruder einſt, zum Manne herange¬ wachſen, als Rächer in den väterlichen Hallen erſcheinen zu ſehen, friſtete ihr kummervolles Daſeyn. Von der Mutter wurde ihr die bitterſte Feindſchaft zu Theil; im eigenen Stammhauſe mußte ſie mit den Mördern ihres Vaters wohnen und ihnen in Allem unterwürfig ſeyn; auf ſie kam es an, ob ſie darben, oder den nothdürftigen Unterhalt empfangen ſollte. Auf dem Thron Agamem¬ nons ſah ſie den Aegiſthus in königlicher Herrlichkeit ſitzen, ſah ihn in deſſen ſchönſte Gewande, welche die Vorrathskammern des Pallaſtes füllten, gekleidet, ein¬ hergehen, und den Schutzgöttern des Hauſes an derſelben Stelle Trankopfer ſpenden, wo er ſeinen Blutsverwandten ermordet hatte. Sie war Zeuge der zärtlichen Vertrau¬ lichkeit, mit welcher die freche Mutter den Beſudelten behandelte; denn dieſe, mit Lächeln über das hinſchlü¬ pfend, was ſie Gräuliches begangen hatte, ordnete all¬ jährlich Feſtreigen an dem Tage an, an welchem ſie den Gatten trügeriſch dahingewürgt, und brachte noch dazu den Rettungsgöttern jeden Monat reichliche Schlachtopfer dar. Die Jungfrau verzehrte ſich bei dieſem empörenden Anblicke in geheimem Gram, denn es war ihr nicht einmal frei zu weinen vergönnt, ſo ſehr ihr Herz darnach begehrte. „Was weinſt du, Gott¬ verhaßte,“ rief ihr die Mutter zornig zu, ſo oft ſie
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Agamemnon gerächt.
Elektra führte inzwiſchen im Königspallaſte ihres
ermordeten Vaters das traurigſte Leben, und nur die
Hoffnung, ihren Bruder einſt, zum Manne herange¬
wachſen, als Rächer in den väterlichen Hallen erſcheinen
zu ſehen, friſtete ihr kummervolles Daſeyn. Von der
Mutter wurde ihr die bitterſte Feindſchaft zu Theil; im
eigenen Stammhauſe mußte ſie mit den Mördern ihres
Vaters wohnen und ihnen in Allem unterwürfig ſeyn;
auf ſie kam es an, ob ſie darben, oder den nothdürftigen
Unterhalt empfangen ſollte. Auf dem Thron Agamem¬
nons ſah ſie den Aegiſthus in königlicher Herrlichkeit
ſitzen, ſah ihn in deſſen ſchönſte Gewande, welche die
Vorrathskammern des Pallaſtes füllten, gekleidet, ein¬
hergehen, und den Schutzgöttern des Hauſes an derſelben
Stelle Trankopfer ſpenden, wo er ſeinen Blutsverwandten
ermordet hatte. Sie war Zeuge der zärtlichen Vertrau¬
lichkeit, mit welcher die freche Mutter den Beſudelten
behandelte; denn dieſe, mit Lächeln über das hinſchlü¬
pfend, was ſie Gräuliches begangen hatte, ordnete all¬
jährlich Feſtreigen an dem Tage an, an welchem
ſie den Gatten trügeriſch dahingewürgt, und brachte
noch dazu den Rettungsgöttern jeden Monat reichliche
Schlachtopfer dar. Die Jungfrau verzehrte ſich bei
dieſem empörenden Anblicke in geheimem Gram, denn
es war ihr nicht einmal frei zu weinen vergönnt, ſo ſehr
ihr Herz darnach begehrte. „Was weinſt du, Gott¬
verhaßte,“ rief ihr die Mutter zornig zu, ſo oft ſie
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/36>, abgerufen am 21.11.2024.
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