war es Wunsch und Bestreben der Göttin, hier ein Welt¬ reich zu begründen. Jetzt aber beherrschte dieses libysche Reich Dido, die Wittwe des Phöniziers Sychäus, welche hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte. --
Am andern Morgen machte sich Aeneas, nur von seinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfspieße in der Hand, auf, um das neue Land zu erforschen, an dessen Gestade ihn der Sturm geworfen hatte. Da be¬ gegnete ihm mitten im Walde seine Mutter Venus in Gestalt einer bewaffneten Jägerin, wie Sparta's Jung¬ frauen sich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das leichte Gewand war bis ans Knie aufgeschürzt. "Sagt mir doch, ihr Jünglinge," so redete sie die schreitenden Helden an, "habt ihr keine meiner Gespielinnen gesehen, in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher?" "Nein," entgegnete ihr Aeneas, "aber wer bist du, Jungfrau? in deinem Antlitz und deiner Stimme ist etwas Uebermenschliches, bist du eine Nymphe, bist du eine Göttin? Doch, wer du auch seyest: sag uns, in wel¬ chem Lande sind wir? Der Sturm hat uns an dieses Gestade verschlagen, und wir irren schon lang in der Welt umher." Hierauf erwiederte Venus lächelnd: "Wir tyrischen Mädchen pflegen uns immer so zu tra¬ gen, und ich bin darum nicht Apollo's Schwester, weil du mich mit dem Köcher bewaffnet siehst. Du bist unter Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier, in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch ist der Welt¬ theil, in welchem du dich befindest, Afrika, das Land ist libysch, und das Volk wild und kriegerisch. Eine Königin herrscht über uns, Dido; auch sie stammt aus
war es Wunſch und Beſtreben der Göttin, hier ein Welt¬ reich zu begründen. Jetzt aber beherrſchte dieſes libyſche Reich Dido, die Wittwe des Phöniziers Sychäus, welche hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte. —
Am andern Morgen machte ſich Aeneas, nur von ſeinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfſpieße in der Hand, auf, um das neue Land zu erforſchen, an deſſen Geſtade ihn der Sturm geworfen hatte. Da be¬ gegnete ihm mitten im Walde ſeine Mutter Venus in Geſtalt einer bewaffneten Jägerin, wie Sparta's Jung¬ frauen ſich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das leichte Gewand war bis ans Knie aufgeſchürzt. „Sagt mir doch, ihr Jünglinge,“ ſo redete ſie die ſchreitenden Helden an, „habt ihr keine meiner Geſpielinnen geſehen, in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher?“ „Nein,“ entgegnete ihr Aeneas, „aber wer biſt du, Jungfrau? in deinem Antlitz und deiner Stimme iſt etwas Uebermenſchliches, biſt du eine Nymphe, biſt du eine Göttin? Doch, wer du auch ſeyeſt: ſag uns, in wel¬ chem Lande ſind wir? Der Sturm hat uns an dieſes Geſtade verſchlagen, und wir irren ſchon lang in der Welt umher.“ Hierauf erwiederte Venus lächelnd: „Wir tyriſchen Mädchen pflegen uns immer ſo zu tra¬ gen, und ich bin darum nicht Apollo's Schweſter, weil du mich mit dem Köcher bewaffnet ſiehſt. Du biſt unter Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier, in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch iſt der Welt¬ theil, in welchem du dich befindeſt, Afrika, das Land iſt libyſch, und das Volk wild und kriegeriſch. Eine Königin herrſcht über uns, Dido; auch ſie ſtammt aus
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war es Wunſch und Beſtreben der Göttin, hier ein Welt¬
reich zu begründen. Jetzt aber beherrſchte dieſes libyſche
Reich Dido, die Wittwe des Phöniziers Sychäus, welche
hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte. —
Am andern Morgen machte ſich Aeneas, nur von
ſeinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfſpieße in
der Hand, auf, um das neue Land zu erforſchen, an
deſſen Geſtade ihn der Sturm geworfen hatte. Da be¬
gegnete ihm mitten im Walde ſeine Mutter Venus in
Geſtalt einer bewaffneten Jägerin, wie Sparta's Jung¬
frauen ſich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über
den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das
leichte Gewand war bis ans Knie aufgeſchürzt. „Sagt
mir doch, ihr Jünglinge,“ ſo redete ſie die ſchreitenden
Helden an, „habt ihr keine meiner Geſpielinnen geſehen,
in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher?“
„Nein,“ entgegnete ihr Aeneas, „aber wer biſt du,
Jungfrau? in deinem Antlitz und deiner Stimme iſt etwas
Uebermenſchliches, biſt du eine Nymphe, biſt du eine
Göttin? Doch, wer du auch ſeyeſt: ſag uns, in wel¬
chem Lande ſind wir? Der Sturm hat uns an dieſes
Geſtade verſchlagen, und wir irren ſchon lang in der
Welt umher.“ Hierauf erwiederte Venus lächelnd:
„Wir tyriſchen Mädchen pflegen uns immer ſo zu tra¬
gen, und ich bin darum nicht Apollo's Schweſter, weil
du mich mit dem Köcher bewaffnet ſiehſt. Du biſt unter
Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier,
in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch iſt der Welt¬
theil, in welchem du dich befindeſt, Afrika, das Land
iſt libyſch, und das Volk wild und kriegeriſch. Eine
Königin herrſcht über uns, Dido; auch ſie ſtammt aus
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/340>, abgerufen am 22.11.2024.
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