helfen. Nun, seyd ihr unversöhnlich, so reißet mich in Stücke, und versenkt mich im tiefsten Wasser: wird mir so doch der Trost zu Theil, von Menschenhänden zu ster¬ ben!" So sprach der Unglückliche, umfaßte die Kniee des Helden Aeneas und schmiegte sich fest an ihn an. Da ermahnten ihn Alle, sein Geschlecht, seinen Namen, sein Schicksal zu melden, und der ehrwürdige Greis An¬ chises reichte ihm selbst die Hand, und nöthigte ihn, vom Boden aufzustehen. Allmählig erholte sich der Arme von der Furcht. "Ich stamme," begann er, "aus Ithaka, und war ein Genosse des erfahrungsreichen Helden Odys¬ seus. Achemenides ist mein Name: weil mein Vater Adamastus arm war, entschloß ich mich, mit gegen Troja zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der scheu߬ lichen Höhle des Cyklopen, als Odysseus und meine an¬ dern Begleiter, so viele der Menschenfresser noch nicht geopfert hatte, die Höhle mit List verließen, krank und elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergessen. Ich hatte es mit angesehen, wie das Ungethüm von meinen armen Freunden ein Paar ums andere verschlang, und mit Hand angelegt, als der einäugige Riese von Odys¬ seus im Rausche geblendet ward. Ich selbst bin nur durch ein Wunder aus seiner Höhle entkommen; aber, umringt vom ungeschlachten Volke der Cyklopen, brachte ich seit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todes¬ angst hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieses abscheulichen Riesenvolkes werden wollet (denn gleich Polyphem irren über hundert in diesem un¬ wirthlichen Gebirg umher), auch ihr besteiget eilig die Schiffe wieder, und löset die Seile vom Strand! Drei
helfen. Nun, ſeyd ihr unverſöhnlich, ſo reißet mich in Stücke, und verſenkt mich im tiefſten Waſſer: wird mir ſo doch der Troſt zu Theil, von Menſchenhänden zu ſter¬ ben!“ So ſprach der Unglückliche, umfaßte die Kniee des Helden Aeneas und ſchmiegte ſich feſt an ihn an. Da ermahnten ihn Alle, ſein Geſchlecht, ſeinen Namen, ſein Schickſal zu melden, und der ehrwürdige Greis An¬ chiſes reichte ihm ſelbſt die Hand, und nöthigte ihn, vom Boden aufzuſtehen. Allmählig erholte ſich der Arme von der Furcht. „Ich ſtamme,“ begann er, „aus Ithaka, und war ein Genoſſe des erfahrungsreichen Helden Odyſ¬ ſeus. Achemenides iſt mein Name: weil mein Vater Adamaſtus arm war, entſchloß ich mich, mit gegen Troja zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der ſcheu߬ lichen Höhle des Cyklopen, als Odyſſeus und meine an¬ dern Begleiter, ſo viele der Menſchenfreſſer noch nicht geopfert hatte, die Höhle mit Liſt verließen, krank und elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergeſſen. Ich hatte es mit angeſehen, wie das Ungethüm von meinen armen Freunden ein Paar ums andere verſchlang, und mit Hand angelegt, als der einäugige Rieſe von Odyſ¬ ſeus im Rauſche geblendet ward. Ich ſelbſt bin nur durch ein Wunder aus ſeiner Höhle entkommen; aber, umringt vom ungeſchlachten Volke der Cyklopen, brachte ich ſeit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todes¬ angſt hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieſes abſcheulichen Rieſenvolkes werden wollet (denn gleich Polyphem irren über hundert in dieſem un¬ wirthlichen Gebirg umher), auch ihr beſteiget eilig die Schiffe wieder, und löſet die Seile vom Strand! Drei
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helfen. Nun, ſeyd ihr unverſöhnlich, ſo reißet mich in
Stücke, und verſenkt mich im tiefſten Waſſer: wird mir
ſo doch der Troſt zu Theil, von Menſchenhänden zu ſter¬
ben!“ So ſprach der Unglückliche, umfaßte die Kniee
des Helden Aeneas und ſchmiegte ſich feſt an ihn an.
Da ermahnten ihn Alle, ſein Geſchlecht, ſeinen Namen,
ſein Schickſal zu melden, und der ehrwürdige Greis An¬
chiſes reichte ihm ſelbſt die Hand, und nöthigte ihn, vom
Boden aufzuſtehen. Allmählig erholte ſich der Arme von
der Furcht. „Ich ſtamme,“ begann er, „aus Ithaka,
und war ein Genoſſe des erfahrungsreichen Helden Odyſ¬
ſeus. Achemenides iſt mein Name: weil mein Vater
Adamaſtus arm war, entſchloß ich mich, mit gegen Troja
zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des
Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der ſcheu߬
lichen Höhle des Cyklopen, als Odyſſeus und meine an¬
dern Begleiter, ſo viele der Menſchenfreſſer noch nicht
geopfert hatte, die Höhle mit Liſt verließen, krank und
elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergeſſen. Ich
hatte es mit angeſehen, wie das Ungethüm von meinen
armen Freunden ein Paar ums andere verſchlang, und
mit Hand angelegt, als der einäugige Rieſe von Odyſ¬
ſeus im Rauſche geblendet ward. Ich ſelbſt bin nur
durch ein Wunder aus ſeiner Höhle entkommen; aber,
umringt vom ungeſchlachten Volke der Cyklopen, brachte
ich ſeit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todes¬
angſt hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht
die Beute dieſes abſcheulichen Rieſenvolkes werden wollet
(denn gleich Polyphem irren über hundert in dieſem un¬
wirthlichen Gebirg umher), auch ihr beſteiget eilig die
Schiffe wieder, und löſet die Seile vom Strand! Drei
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/331>, abgerufen am 22.11.2024.
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