Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬
len von Sikanien an euer Gestade getrieben, wo mein
Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf
Jahre sind's, daß dein Sohn Odysseus meine Heimath
verlassen hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬
vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als
Gastfreunde zu sehen, und uns gegenseitig schöne Gaben
zu verehren."

Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬
gen, mit beiden Händen langte er nach der schwarzen
Erde, streute sie sich auf sein schneeweißes Haupt, und
fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das
Herz über; der Athem wollte ihm die Brust zersprengen:
er stürzte auf seinen Vater zu, umschlang ihn unter
Küssen und rief: "Ich selbst bin es, Vater, ich selbst,
nach welchem du frägst! im zwanzigsten Jahre bin ich
in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen,
gib allem Jammer Abschied, denn ich sage dir's kurz:
alle Freier habe ich in unserem Palaste erschlagen!"

Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich
laut aus: "Wenn du wirklich Odysseus, wenn du mein
heimgekehrter Sohn bist, so gib mir ein unzweifelhaftes
Zeichen, auf daß ich glaube!" "Vor allen Dingen,"
erwiederte Odysseus, "sieh hier die Narbe, lieber Vater,
die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt,
als ihr mich selbst, du und die Mutter, zu ihrem guten
alten Vater Autolykus schicktet, daß ich die Gaben, die
er mir einst verheißen hatte, bei ihm abhohlen sollte.
Aber du sollst auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will
dir die Bäume zeigen, die du mir einst geschenkt hast.
Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in

Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬
len von Sikanien an euer Geſtade getrieben, wo mein
Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf
Jahre ſind's, daß dein Sohn Odyſſeus meine Heimath
verlaſſen hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬
vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als
Gaſtfreunde zu ſehen, und uns gegenſeitig ſchöne Gaben
zu verehren.“

Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬
gen, mit beiden Händen langte er nach der ſchwarzen
Erde, ſtreute ſie ſich auf ſein ſchneeweißes Haupt, und
fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das
Herz über; der Athem wollte ihm die Bruſt zerſprengen:
er ſtürzte auf ſeinen Vater zu, umſchlang ihn unter
Küſſen und rief: „Ich ſelbſt bin es, Vater, ich ſelbſt,
nach welchem du frägſt! im zwanzigſten Jahre bin ich
in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen,
gib allem Jammer Abſchied, denn ich ſage dir's kurz:
alle Freier habe ich in unſerem Palaſte erſchlagen!“

Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich
laut aus: „Wenn du wirklich Odyſſeus, wenn du mein
heimgekehrter Sohn biſt, ſo gib mir ein unzweifelhaftes
Zeichen, auf daß ich glaube!“ „Vor allen Dingen,“
erwiederte Odyſſeus, „ſieh hier die Narbe, lieber Vater,
die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt,
als ihr mich ſelbſt, du und die Mutter, zu ihrem guten
alten Vater Autolykus ſchicktet, daß ich die Gaben, die
er mir einſt verheißen hatte, bei ihm abhohlen ſollte.
Aber du ſollſt auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will
dir die Bäume zeigen, die du mir einſt geſchenkt haſt.
Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0302" n="280"/>
Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬<lb/>
len von Sikanien an euer Ge&#x017F;tade getrieben, wo mein<lb/>
Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf<lb/>
Jahre &#x017F;ind's, daß dein Sohn Ody&#x017F;&#x017F;eus meine Heimath<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬<lb/>
vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als<lb/>
Ga&#x017F;tfreunde zu &#x017F;ehen, und uns gegen&#x017F;eitig &#x017F;chöne Gaben<lb/>
zu verehren.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬<lb/>
gen, mit beiden Händen langte er nach der &#x017F;chwarzen<lb/>
Erde, &#x017F;treute &#x017F;ie &#x017F;ich auf &#x017F;ein &#x017F;chneeweißes Haupt, und<lb/>
fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das<lb/>
Herz über; der Athem wollte ihm die Bru&#x017F;t zer&#x017F;prengen:<lb/>
er &#x017F;türzte auf &#x017F;einen Vater zu, um&#x017F;chlang ihn unter<lb/>&#x017F;&#x017F;en und rief: &#x201E;Ich &#x017F;elb&#x017F;t bin es, Vater, ich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
nach welchem du fräg&#x017F;t! im zwanzig&#x017F;ten Jahre bin ich<lb/>
in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen,<lb/>
gib allem Jammer Ab&#x017F;chied, denn ich &#x017F;age dir's kurz:<lb/>
alle Freier habe ich in un&#x017F;erem Pala&#x017F;te er&#x017F;chlagen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich<lb/>
laut aus: &#x201E;Wenn du wirklich Ody&#x017F;&#x017F;eus, wenn du mein<lb/>
heimgekehrter Sohn bi&#x017F;t, &#x017F;o gib mir ein unzweifelhaftes<lb/>
Zeichen, auf daß ich glaube!&#x201C; &#x201E;Vor allen Dingen,&#x201C;<lb/>
erwiederte Ody&#x017F;&#x017F;eus, &#x201E;&#x017F;ieh hier die Narbe, lieber Vater,<lb/>
die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt,<lb/>
als ihr mich &#x017F;elb&#x017F;t, du und die Mutter, zu ihrem guten<lb/>
alten Vater Autolykus &#x017F;chicktet, daß ich die Gaben, die<lb/>
er mir ein&#x017F;t verheißen hatte, bei ihm abhohlen &#x017F;ollte.<lb/>
Aber du &#x017F;oll&#x017F;t auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will<lb/>
dir die Bäume zeigen, die du mir ein&#x017F;t ge&#x017F;chenkt ha&#x017F;t.<lb/>
Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0302] Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬ len von Sikanien an euer Geſtade getrieben, wo mein Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf Jahre ſind's, daß dein Sohn Odyſſeus meine Heimath verlaſſen hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬ vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als Gaſtfreunde zu ſehen, und uns gegenſeitig ſchöne Gaben zu verehren.“ Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬ gen, mit beiden Händen langte er nach der ſchwarzen Erde, ſtreute ſie ſich auf ſein ſchneeweißes Haupt, und fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das Herz über; der Athem wollte ihm die Bruſt zerſprengen: er ſtürzte auf ſeinen Vater zu, umſchlang ihn unter Küſſen und rief: „Ich ſelbſt bin es, Vater, ich ſelbſt, nach welchem du frägſt! im zwanzigſten Jahre bin ich in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen, gib allem Jammer Abſchied, denn ich ſage dir's kurz: alle Freier habe ich in unſerem Palaſte erſchlagen!“ Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich laut aus: „Wenn du wirklich Odyſſeus, wenn du mein heimgekehrter Sohn biſt, ſo gib mir ein unzweifelhaftes Zeichen, auf daß ich glaube!“ „Vor allen Dingen,“ erwiederte Odyſſeus, „ſieh hier die Narbe, lieber Vater, die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt, als ihr mich ſelbſt, du und die Mutter, zu ihrem guten alten Vater Autolykus ſchicktet, daß ich die Gaben, die er mir einſt verheißen hatte, bei ihm abhohlen ſollte. Aber du ſollſt auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will dir die Bäume zeigen, die du mir einſt geſchenkt haſt. Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/302
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/302>, abgerufen am 23.11.2024.