und mächtigen Schrittes der Tiefe wieder zu und verlor sich in derselben.
Auch die andern Seelen der Abgeschiedenen, die in¬ zwischen von dem Blute getrunken hatten, standen mir nun Rede. Nur der Schatten des Ajax, den ich einst im Streit um die Waffen des Achilles besiegt und der sich deßwegen entleibt hatte, stellte sich seitwärts und zürnte. Mit sanften Worten redete ich ihn an: "Telamons Sohn, kannst du denn auch im Tode den Unmuth nicht ver¬ gessen, in welchen dich die Rüstung des Achilles versetzt hat, welche die Götter den Argivern doch nur zum Fluche bestimmt hatten? Denn durch sie bist du, der ein Thurm war in der Feldschlacht, dahingesunken, daß wir dich nächst Achilles bejammern mußten. Doch ist keiner von uns an deinem Tode schuldig; es war ein Ver¬ hängniß, das dir und uns Jupiter zugesandt hat. Darum, edler Fürst, bezwinge dein Gemüth, nahe mir, rede mit mir!" Aber der Schatten antwortete nichts, sondern ging ins Dunkel zu andern abgeschiedenen Seelen.
Nun erblickte ich auch die Schatten längst verstor¬ bener Helden: den Todtenrichter Minos; den gewaltigen Jäger Orion, welcher die Keule in der Hand, Schatten¬ bilder von Luchsen und Löwen aufscheuchte; den Tityus, dem für seine Frevel zwei Geier, von jeder Seite einer, an der Leber fraßen; den Tantalus, der dürstend mitten im Wasser stand, daß es ihm das Kinn bespülte, aber so oft er trinken wollte, wich die Welle zurück und ver¬ siegte, daß der schwarze Boden zu seinen Füßen sichtbar wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über sein Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven, Aepfeln: -- wenn er aber, der Hungernde, sie mit den
und mächtigen Schrittes der Tiefe wieder zu und verlor ſich in derſelben.
Auch die andern Seelen der Abgeſchiedenen, die in¬ zwiſchen von dem Blute getrunken hatten, ſtanden mir nun Rede. Nur der Schatten des Ajax, den ich einſt im Streit um die Waffen des Achilles beſiegt und der ſich deßwegen entleibt hatte, ſtellte ſich ſeitwärts und zürnte. Mit ſanften Worten redete ich ihn an: „Telamons Sohn, kannſt du denn auch im Tode den Unmuth nicht ver¬ geſſen, in welchen dich die Rüſtung des Achilles verſetzt hat, welche die Götter den Argivern doch nur zum Fluche beſtimmt hatten? Denn durch ſie biſt du, der ein Thurm war in der Feldſchlacht, dahingeſunken, daß wir dich nächſt Achilles bejammern mußten. Doch iſt keiner von uns an deinem Tode ſchuldig; es war ein Ver¬ hängniß, das dir und uns Jupiter zugeſandt hat. Darum, edler Fürſt, bezwinge dein Gemüth, nahe mir, rede mit mir!“ Aber der Schatten antwortete nichts, ſondern ging ins Dunkel zu andern abgeſchiedenen Seelen.
Nun erblickte ich auch die Schatten längſt verſtor¬ bener Helden: den Todtenrichter Minos; den gewaltigen Jäger Orion, welcher die Keule in der Hand, Schatten¬ bilder von Luchſen und Löwen aufſcheuchte; den Tityus, dem für ſeine Frevel zwei Geier, von jeder Seite einer, an der Leber fraßen; den Tantalus, der dürſtend mitten im Waſſer ſtand, daß es ihm das Kinn beſpülte, aber ſo oft er trinken wollte, wich die Welle zurück und ver¬ ſiegte, daß der ſchwarze Boden zu ſeinen Füßen ſichtbar wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über ſein Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven, Aepfeln: — wenn er aber, der Hungernde, ſie mit den
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und mächtigen Schrittes der Tiefe wieder zu und verlor
ſich in derſelben.
Auch die andern Seelen der Abgeſchiedenen, die in¬
zwiſchen von dem Blute getrunken hatten, ſtanden mir
nun Rede. Nur der Schatten des Ajax, den ich einſt im
Streit um die Waffen des Achilles beſiegt und der ſich
deßwegen entleibt hatte, ſtellte ſich ſeitwärts und zürnte.
Mit ſanften Worten redete ich ihn an: „Telamons Sohn,
kannſt du denn auch im Tode den Unmuth nicht ver¬
geſſen, in welchen dich die Rüſtung des Achilles verſetzt
hat, welche die Götter den Argivern doch nur zum
Fluche beſtimmt hatten? Denn durch ſie biſt du, der ein
Thurm war in der Feldſchlacht, dahingeſunken, daß wir
dich nächſt Achilles bejammern mußten. Doch iſt keiner
von uns an deinem Tode ſchuldig; es war ein Ver¬
hängniß, das dir und uns Jupiter zugeſandt hat. Darum,
edler Fürſt, bezwinge dein Gemüth, nahe mir, rede mit
mir!“ Aber der Schatten antwortete nichts, ſondern
ging ins Dunkel zu andern abgeſchiedenen Seelen.
Nun erblickte ich auch die Schatten längſt verſtor¬
bener Helden: den Todtenrichter Minos; den gewaltigen
Jäger Orion, welcher die Keule in der Hand, Schatten¬
bilder von Luchſen und Löwen aufſcheuchte; den Tityus,
dem für ſeine Frevel zwei Geier, von jeder Seite einer,
an der Leber fraßen; den Tantalus, der dürſtend mitten
im Waſſer ſtand, daß es ihm das Kinn beſpülte, aber
ſo oft er trinken wollte, wich die Welle zurück und ver¬
ſiegte, daß der ſchwarze Boden zu ſeinen Füßen ſichtbar
wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über ſein
Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven,
Aepfeln: — wenn er aber, der Hungernde, ſie mit den
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/180>, abgerufen am 22.11.2024.
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