als ich gegen Ilios aufbrach. Sie sah mich bittend und schmerzlich an und entfernte sich endlich mit dem Sohne.
Nun erschien die Seele des Thebaners Tiresias, einen goldenen Stab in der Rechten. Er erkannte mich sogleich und hub an: "Edler Sohn des Laertes, was trieb dich, das Sonnenlicht zu verlassen und diesen Ort des Entsetzens zu besuchen? Aber ziehe nur dein gezück¬ tes Schwert von der Grube zurück, damit ich von dem Opferblute trinke und so in den Stand gesetzt werde, dir dein Schicksal zu weissagen." Ich wich bei diesem Worte von der Grube und stieß mein Schwert in die Scheide. Nun trank der Schatten von dem schwarzen Blut und fing alsbald zu wahrsagen an: "Du forschest bei mir, Odysseus, nach einer fröhlichen Heimkehr ins Vaterland; aber ein Gott wird sie dir schwer machen, und du kannst dich der Hand des Erderschütterers nicht entziehen. Du hast ihn schwer dadurch beleidigt, daß du seinem Sohne Polyphemus das Auge geblendet hast. Dennoch soll dir die Rückkehr nicht ganz abgeschnitten seyn; halte nur dein und deiner Genossen Herz im Zaume. Zuerst landet ihr auf der Insel Thrinakia: wenn ihr dort die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes unberührt lasset, so dürfte euch die Heimfahrt wohl ge¬ lingen. Verletzet ihr sie aber, dann weissage ich deinem Schiff und deinen Freunden Verderben. Wenn du selbst auch entrinnest, so kommst du spät, elend und einsam nach Hause, auf einem fremden Schiff. Auch dort fin¬ dest du nur Jammer; übermüthige Männer, die dein Gut verprassen und um dein Weib Penelope freien. Wenn du diese, sey es mit List oder Gewalt, bezwungen und getödtet, und ruhiges Glück dir lange gelächelt hat, so
als ich gegen Ilios aufbrach. Sie ſah mich bittend und ſchmerzlich an und entfernte ſich endlich mit dem Sohne.
Nun erſchien die Seele des Thebaners Tireſias, einen goldenen Stab in der Rechten. Er erkannte mich ſogleich und hub an: „Edler Sohn des Laertes, was trieb dich, das Sonnenlicht zu verlaſſen und dieſen Ort des Entſetzens zu beſuchen? Aber ziehe nur dein gezück¬ tes Schwert von der Grube zurück, damit ich von dem Opferblute trinke und ſo in den Stand geſetzt werde, dir dein Schickſal zu weiſſagen.“ Ich wich bei dieſem Worte von der Grube und ſtieß mein Schwert in die Scheide. Nun trank der Schatten von dem ſchwarzen Blut und fing alsbald zu wahrſagen an: „Du forſcheſt bei mir, Odyſſeus, nach einer fröhlichen Heimkehr ins Vaterland; aber ein Gott wird ſie dir ſchwer machen, und du kannſt dich der Hand des Erderſchütterers nicht entziehen. Du haſt ihn ſchwer dadurch beleidigt, daß du ſeinem Sohne Polyphemus das Auge geblendet haſt. Dennoch ſoll dir die Rückkehr nicht ganz abgeſchnitten ſeyn; halte nur dein und deiner Genoſſen Herz im Zaume. Zuerſt landet ihr auf der Inſel Thrinakia: wenn ihr dort die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes unberührt laſſet, ſo dürfte euch die Heimfahrt wohl ge¬ lingen. Verletzet ihr ſie aber, dann weiſſage ich deinem Schiff und deinen Freunden Verderben. Wenn du ſelbſt auch entrinneſt, ſo kommſt du ſpät, elend und einſam nach Hauſe, auf einem fremden Schiff. Auch dort fin¬ deſt du nur Jammer; übermüthige Männer, die dein Gut verpraſſen und um dein Weib Penelope freien. Wenn du dieſe, ſey es mit Liſt oder Gewalt, bezwungen und getödtet, und ruhiges Glück dir lange gelächelt hat, ſo
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als ich gegen Ilios aufbrach. Sie ſah mich bittend und
ſchmerzlich an und entfernte ſich endlich mit dem Sohne.
Nun erſchien die Seele des Thebaners Tireſias,
einen goldenen Stab in der Rechten. Er erkannte mich
ſogleich und hub an: „Edler Sohn des Laertes, was
trieb dich, das Sonnenlicht zu verlaſſen und dieſen Ort
des Entſetzens zu beſuchen? Aber ziehe nur dein gezück¬
tes Schwert von der Grube zurück, damit ich von dem
Opferblute trinke und ſo in den Stand geſetzt werde,
dir dein Schickſal zu weiſſagen.“ Ich wich bei dieſem
Worte von der Grube und ſtieß mein Schwert in die
Scheide. Nun trank der Schatten von dem ſchwarzen
Blut und fing alsbald zu wahrſagen an: „Du forſcheſt
bei mir, Odyſſeus, nach einer fröhlichen Heimkehr ins
Vaterland; aber ein Gott wird ſie dir ſchwer machen,
und du kannſt dich der Hand des Erderſchütterers nicht
entziehen. Du haſt ihn ſchwer dadurch beleidigt, daß
du ſeinem Sohne Polyphemus das Auge geblendet haſt.
Dennoch ſoll dir die Rückkehr nicht ganz abgeſchnitten
ſeyn; halte nur dein und deiner Genoſſen Herz im Zaume.
Zuerſt landet ihr auf der Inſel Thrinakia: wenn ihr
dort die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes
unberührt laſſet, ſo dürfte euch die Heimfahrt wohl ge¬
lingen. Verletzet ihr ſie aber, dann weiſſage ich deinem
Schiff und deinen Freunden Verderben. Wenn du ſelbſt
auch entrinneſt, ſo kommſt du ſpät, elend und einſam
nach Hauſe, auf einem fremden Schiff. Auch dort fin¬
deſt du nur Jammer; übermüthige Männer, die dein
Gut verpraſſen und um dein Weib Penelope freien. Wenn
du dieſe, ſey es mit Liſt oder Gewalt, bezwungen und
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/176>, abgerufen am 22.11.2024.
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