Freudenthränen auf mich zustürzten. Als ich ihnen den Vorschlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und bei der Göttin einzukehren, zeigten sich auch sogleich alle willig, nur Eurylochus wehrte die Genossen ab und sprach zu ihnen: "Habt ihr denn ein gar so großes Ver¬ langen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palast der Zauberin eingehen wollt, die uns Alle in Löwen, Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in dieser scheußlichen Gestalt ihr Haus zu hüten? Wie ist der Cyklop mit unsern Freunden umgegangen, als der Unverstand des Odysseus uns ihm in die Hände gelie¬ fert?" Als ich diese Schmähung hörte, empfand ich einige Lust in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den Kopf vom Rumpfe zu schlagen, obgleich er nahe mit mir verwandt war. Die Freunde sahen die Bewegung, die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich zur Besinnung.
Nun brachen wir Alle auf, und Eurylochus selbst, durch meine Drohung erschreckt, weigerte sich nicht zu folgen. Inzwischen hatte Circe unsre Freunde gebadet, mit Oele gesalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden sie Alle ganz fröhlich beim Schmaus versammelt. Da war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen! Die Göttin sprach Allen Muth ein und that uns so viel Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Be¬ gleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr einge¬ denk zu seyn. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede das Herz, und noch an demselben Abend umfaßte ich Circe's Kniee und flehte sie an, Wort zu halten, und
Freudenthränen auf mich zuſtürzten. Als ich ihnen den Vorſchlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und bei der Göttin einzukehren, zeigten ſich auch ſogleich alle willig, nur Eurylochus wehrte die Genoſſen ab und ſprach zu ihnen: „Habt ihr denn ein gar ſo großes Ver¬ langen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palaſt der Zauberin eingehen wollt, die uns Alle in Löwen, Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in dieſer ſcheußlichen Geſtalt ihr Haus zu hüten? Wie iſt der Cyklop mit unſern Freunden umgegangen, als der Unverſtand des Odyſſeus uns ihm in die Hände gelie¬ fert?“ Als ich dieſe Schmähung hörte, empfand ich einige Luſt in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den Kopf vom Rumpfe zu ſchlagen, obgleich er nahe mit mir verwandt war. Die Freunde ſahen die Bewegung, die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich zur Beſinnung.
Nun brachen wir Alle auf, und Eurylochus ſelbſt, durch meine Drohung erſchreckt, weigerte ſich nicht zu folgen. Inzwiſchen hatte Circe unſre Freunde gebadet, mit Oele geſalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden ſie Alle ganz fröhlich beim Schmaus verſammelt. Da war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen! Die Göttin ſprach Allen Muth ein und that uns ſo viel Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Be¬ gleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr einge¬ denk zu ſeyn. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede das Herz, und noch an demſelben Abend umfaßte ich Circe's Kniee und flehte ſie an, Wort zu halten, und
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Freudenthränen auf mich zuſtürzten. Als ich ihnen den
Vorſchlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und
bei der Göttin einzukehren, zeigten ſich auch ſogleich alle
willig, nur Eurylochus wehrte die Genoſſen ab und
ſprach zu ihnen: „Habt ihr denn ein gar ſo großes Ver¬
langen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palaſt
der Zauberin eingehen wollt, die uns Alle in Löwen,
Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in
dieſer ſcheußlichen Geſtalt ihr Haus zu hüten? Wie iſt
der Cyklop mit unſern Freunden umgegangen, als der
Unverſtand des Odyſſeus uns ihm in die Hände gelie¬
fert?“ Als ich dieſe Schmähung hörte, empfand ich
einige Luſt in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den
Kopf vom Rumpfe zu ſchlagen, obgleich er nahe mit
mir verwandt war. Die Freunde ſahen die Bewegung,
die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich
zur Beſinnung.
Nun brachen wir Alle auf, und Eurylochus ſelbſt,
durch meine Drohung erſchreckt, weigerte ſich nicht zu
folgen. Inzwiſchen hatte Circe unſre Freunde gebadet,
mit Oele geſalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden
ſie Alle ganz fröhlich beim Schmaus verſammelt. Da
war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen! Die
Göttin ſprach Allen Muth ein und that uns ſo viel
Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden
und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber
nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Be¬
gleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr einge¬
denk zu ſeyn. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede
das Herz, und noch an demſelben Abend umfaßte ich
Circe's Kniee und flehte ſie an, Wort zu halten, und
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/171>, abgerufen am 22.11.2024.
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