Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

genießen. Aber obgleich reichliche Speisen vor mir auf
meinem Tische standen, streckte ich doch nicht die Hände
darnach aus, sondern saß, schweigend und kummervoll
meiner schönen Wirthin gegenüber. Als diese mich end¬
lich nach der Ursache meines stummen Grames fragte,
da sprach ich: "Welcher Mann, der noch ein Gefühl
für Recht und Billigkeit hat, könnte sich auch an Speise
und Trank erfreuen, so lange er seine Freunde im Elende
weiß? Wenn du willst, daß ich mit Lust bei dir geniessen
soll, so laß mich meine lieben Genossen mit Augen sehen!"

Circe ließ sich nicht lange bitten, sie verließ das
Gemach, ihren Zauberstab in der Hand, Draußen schloß
sie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine
Freunde heraus, die mich, der ich inzwischen auch her¬
beigekommen war, in der Gestalt neunjähriger Schweine
umwimmelten. Nun ging sie bei allen umher und be¬
strich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal schäl¬
ten sie sich nun aus der borstigen Hülle und wurden
alle zu Männern und zwar jünger und schöner, als sie
vorher gewesen waren. Freudig eilten sie auf mich zu
und reichten mir dir Hände; als sie aber ihres elenden
Schicksals gedachten, fingen sie alle zu weinen und zu
jammern an. Die Göttin sprach darauf schmeichelnd zu
mir: "Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen
gethan. Thu' du nun mir auch den Gefallen, und laß
dein Schiff ans Ufer ziehen, birg seine Ladung in den
Felsengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen
lieben Genossen wohl bei mir seyn!"

Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich suchte
das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die
mich schon lange für todt beklagt hatten und nun mit

genießen. Aber obgleich reichliche Speiſen vor mir auf
meinem Tiſche ſtanden, ſtreckte ich doch nicht die Hände
darnach aus, ſondern ſaß, ſchweigend und kummervoll
meiner ſchönen Wirthin gegenüber. Als dieſe mich end¬
lich nach der Urſache meines ſtummen Grames fragte,
da ſprach ich: „Welcher Mann, der noch ein Gefühl
für Recht und Billigkeit hat, könnte ſich auch an Speiſe
und Trank erfreuen, ſo lange er ſeine Freunde im Elende
weiß? Wenn du willſt, daß ich mit Luſt bei dir genieſſen
ſoll, ſo laß mich meine lieben Genoſſen mit Augen ſehen!“

Circe ließ ſich nicht lange bitten, ſie verließ das
Gemach, ihren Zauberſtab in der Hand, Draußen ſchloß
ſie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine
Freunde heraus, die mich, der ich inzwiſchen auch her¬
beigekommen war, in der Geſtalt neunjähriger Schweine
umwimmelten. Nun ging ſie bei allen umher und be¬
ſtrich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal ſchäl¬
ten ſie ſich nun aus der borſtigen Hülle und wurden
alle zu Männern und zwar jünger und ſchöner, als ſie
vorher geweſen waren. Freudig eilten ſie auf mich zu
und reichten mir dir Hände; als ſie aber ihres elenden
Schickſals gedachten, fingen ſie alle zu weinen und zu
jammern an. Die Göttin ſprach darauf ſchmeichelnd zu
mir: „Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen
gethan. Thu' du nun mir auch den Gefallen, und laß
dein Schiff ans Ufer ziehen, birg ſeine Ladung in den
Felſengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen
lieben Genoſſen wohl bei mir ſeyn!“

Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich ſuchte
das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die
mich ſchon lange für todt beklagt hatten und nun mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0170" n="148"/>
genießen. Aber obgleich reichliche Spei&#x017F;en vor mir auf<lb/>
meinem Ti&#x017F;che &#x017F;tanden, &#x017F;treckte ich doch nicht die Hände<lb/>
darnach aus, &#x017F;ondern &#x017F;aß, &#x017F;chweigend und kummervoll<lb/>
meiner &#x017F;chönen Wirthin gegenüber. Als die&#x017F;e mich end¬<lb/>
lich nach der Ur&#x017F;ache meines &#x017F;tummen Grames fragte,<lb/>
da &#x017F;prach ich: &#x201E;Welcher Mann, der noch ein Gefühl<lb/>
für Recht und Billigkeit hat, könnte &#x017F;ich auch an Spei&#x017F;e<lb/>
und Trank erfreuen, &#x017F;o lange er &#x017F;eine Freunde im Elende<lb/>
weiß? Wenn du will&#x017F;t, daß ich mit Lu&#x017F;t bei dir genie&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;oll, &#x017F;o laß mich meine lieben Geno&#x017F;&#x017F;en mit Augen &#x017F;ehen!&#x201C;</p><lb/>
              <p>Circe ließ &#x017F;ich nicht lange bitten, &#x017F;ie verließ das<lb/>
Gemach, ihren Zauber&#x017F;tab in der Hand, Draußen &#x017F;chloß<lb/>
&#x017F;ie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine<lb/>
Freunde heraus, die mich, der ich inzwi&#x017F;chen auch her¬<lb/>
beigekommen war, in der Ge&#x017F;talt neunjähriger Schweine<lb/>
umwimmelten. Nun ging &#x017F;ie bei allen umher und be¬<lb/>
&#x017F;trich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal &#x017F;chäl¬<lb/>
ten &#x017F;ie &#x017F;ich nun aus der bor&#x017F;tigen Hülle und wurden<lb/>
alle zu Männern und zwar jünger und &#x017F;chöner, als &#x017F;ie<lb/>
vorher gewe&#x017F;en waren. Freudig eilten &#x017F;ie auf mich zu<lb/>
und reichten mir dir Hände; als &#x017F;ie aber ihres elenden<lb/>
Schick&#x017F;als gedachten, fingen &#x017F;ie alle zu weinen und zu<lb/>
jammern an. Die Göttin &#x017F;prach darauf &#x017F;chmeichelnd zu<lb/>
mir: &#x201E;Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen<lb/>
gethan. Thu' du nun mir auch den Gefallen, und laß<lb/>
dein Schiff ans Ufer ziehen, birg &#x017F;eine Ladung in den<lb/>
Fel&#x017F;engrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen<lb/>
lieben Geno&#x017F;&#x017F;en wohl bei mir &#x017F;eyn!&#x201C;</p><lb/>
              <p>Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich &#x017F;uchte<lb/>
das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die<lb/>
mich &#x017F;chon lange für todt beklagt hatten und nun mit<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0170] genießen. Aber obgleich reichliche Speiſen vor mir auf meinem Tiſche ſtanden, ſtreckte ich doch nicht die Hände darnach aus, ſondern ſaß, ſchweigend und kummervoll meiner ſchönen Wirthin gegenüber. Als dieſe mich end¬ lich nach der Urſache meines ſtummen Grames fragte, da ſprach ich: „Welcher Mann, der noch ein Gefühl für Recht und Billigkeit hat, könnte ſich auch an Speiſe und Trank erfreuen, ſo lange er ſeine Freunde im Elende weiß? Wenn du willſt, daß ich mit Luſt bei dir genieſſen ſoll, ſo laß mich meine lieben Genoſſen mit Augen ſehen!“ Circe ließ ſich nicht lange bitten, ſie verließ das Gemach, ihren Zauberſtab in der Hand, Draußen ſchloß ſie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine Freunde heraus, die mich, der ich inzwiſchen auch her¬ beigekommen war, in der Geſtalt neunjähriger Schweine umwimmelten. Nun ging ſie bei allen umher und be¬ ſtrich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal ſchäl¬ ten ſie ſich nun aus der borſtigen Hülle und wurden alle zu Männern und zwar jünger und ſchöner, als ſie vorher geweſen waren. Freudig eilten ſie auf mich zu und reichten mir dir Hände; als ſie aber ihres elenden Schickſals gedachten, fingen ſie alle zu weinen und zu jammern an. Die Göttin ſprach darauf ſchmeichelnd zu mir: „Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen gethan. Thu' du nun mir auch den Gefallen, und laß dein Schiff ans Ufer ziehen, birg ſeine Ladung in den Felſengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen lieben Genoſſen wohl bei mir ſeyn!“ Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich ſuchte das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die mich ſchon lange für todt beklagt hatten und nun mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/170
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/170>, abgerufen am 22.11.2024.