er sich in Allem höchst willig, und schenkte uns einen dickaufgeschwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬ jährigen Stiers bereitet. In diesem waren sämmtliche Winde eingeschlossen, die über die Erde dahin zu wehen pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬ walter der Winde bestellt, und hatte die Macht empfan¬ gen, welche Winde er wollte, los zu lassen, und ihnen wieder Ruhe zu gebieten. Er selbst nun band uns den Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden in meinem Schiffe fest und schnürte ihn so zusammen, daß auch nicht die kleinste Luft herauskonnte. Doch hatte er sich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr von allen Gattungen noch genug zu Hause. Das zeigte er sogleich. Denn als wir uns eingeschifft hatten, ließ er unsern Schiffen den sanftesten Westwind nachwehen, der uns schnell und leicht in die Heimath bringen sollte. Aber es wurde uns nicht so gut, sondern unsere eigene Thorheit brachte uns in großes Unglück.
Schon segelten wir neun Tage und Nächte lang auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht waren wir so nahe an meiner Heimathinsel Ithaka, daß wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da mußte mich müden Mann der Schlummer beschleichen, denn ich hatte mich unaufhörlich damit beschäftigt, das Segel meines Schiffes zu stellen, um desto schneller das Vaterland zu erreichen, und dieses Geschäft mochte ich keinem Andern anvertrauen. Während ich nun schlief, spannen meine Schiffsgesellen ein Gespräch darüber an, was wohl in dem Schlauch sein möchte, welchen mir der König Aeolus zum Gastgeschenke gegeben hätte. Da zeigte sich, daß sie alle in dem Wahn befangen waren,
er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬ jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬ walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬ gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen, daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen, der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte. Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene Thorheit brachte uns in großes Unglück.
Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen, denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief, ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an, was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0160"n="138"/>
er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen<lb/>
dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬<lb/>
jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche<lb/>
Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen<lb/>
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬<lb/>
walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬<lb/>
gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen<lb/>
wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den<lb/>
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden<lb/>
in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen,<lb/>
daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte<lb/>
er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr<lb/>
von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte<lb/>
er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ<lb/>
er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen,<lb/>
der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte.<lb/>
Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene<lb/>
Thorheit brachte uns in großes Unglück.</p><lb/><p>Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang<lb/>
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht<lb/>
waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß<lb/>
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da<lb/>
mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen,<lb/>
denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das<lb/>
Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das<lb/>
Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich<lb/>
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief,<lb/>ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an,<lb/>
was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir<lb/>
der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da<lb/>
zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[138/0160]
er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen
dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬
jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche
Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬
walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬
gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen
wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden
in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen,
daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte
er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr
von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte
er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ
er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen,
der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte.
Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene
Thorheit brachte uns in großes Unglück.
Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht
waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da
mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen,
denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das
Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das
Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief,
ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an,
was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir
der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da
zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/160>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.