Es war um Sonnenuntergang, als die Geschenke ankamen, und alle vor der Königin niedergelegt wurden. Sie hieß Alcinous auch noch eine zierliche Lade für die Gewande herbeischaffen; darein wurden die Gaben gelegt und für Odysseus in den Palast getragen. Dort fügte der König, der sich mit der ganzen Gesellschaft in seine Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köst¬ lichen Gewanden hinzu, und außerdem ein herrliches goldenes Gefäß. Dem Gaste wurde ein Bad bereitet, indem zeigte ihm die Königin selbst alle die köstlichen Geschenke in der offenen Lade und sprach dazu: "Be¬ trachte dir den Deckel selbst genau und verschließe die Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa schläfst, wäh¬ rend der Heimfahrt beraube, und die schöne Kiste da¬ vontrage!" Odysseus schlug den Deckel sorgfältig ein, und verschloß die Lade mit einem vielfach verschlungenen Knoten; dann erquickte er sich im warmen Bade, und wollte nun wieder in die Gesellschaft der zu Schmaus und Trunk niedergesessenen Männer zurückkehren. Da fand er vor dem Thürpfosten des Saales beim Eingang in denselben die holdselige Jungfrau Nausikaa stehen, welche er seit seinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt hatte, und welche seither züchtiglich und ferne von den Männerfesten im Frauengemache verschlossen gelebt; nun aber wollte sie zum Abschiede den edeln Gast auch noch einmal begrüßen. Nachdem sie einen langen bewundern¬ den Blick auf die edle Heldengestalt des Mannes gewor¬ fen, sprach sie endlich, indem sie den Hineintretenden sanft aufhielt: "Heil dir und Segen, edler Gast! Ge¬ denke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir ja doch dein Leben verdankest!" Gerührt antwortete ihr
Es war um Sonnenuntergang, als die Geſchenke ankamen, und alle vor der Königin niedergelegt wurden. Sie hieß Alcinous auch noch eine zierliche Lade für die Gewande herbeiſchaffen; darein wurden die Gaben gelegt und für Odyſſeus in den Palaſt getragen. Dort fügte der König, der ſich mit der ganzen Geſellſchaft in ſeine Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köſt¬ lichen Gewanden hinzu, und außerdem ein herrliches goldenes Gefäß. Dem Gaſte wurde ein Bad bereitet, indem zeigte ihm die Königin ſelbſt alle die köſtlichen Geſchenke in der offenen Lade und ſprach dazu: „Be¬ trachte dir den Deckel ſelbſt genau und verſchließe die Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa ſchläfſt, wäh¬ rend der Heimfahrt beraube, und die ſchöne Kiſte da¬ vontrage!“ Odyſſeus ſchlug den Deckel ſorgfältig ein, und verſchloß die Lade mit einem vielfach verſchlungenen Knoten; dann erquickte er ſich im warmen Bade, und wollte nun wieder in die Geſellſchaft der zu Schmaus und Trunk niedergeſeſſenen Männer zurückkehren. Da fand er vor dem Thürpfoſten des Saales beim Eingang in denſelben die holdſelige Jungfrau Nauſikaa ſtehen, welche er ſeit ſeinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt hatte, und welche ſeither züchtiglich und ferne von den Männerfeſten im Frauengemache verſchloſſen gelebt; nun aber wollte ſie zum Abſchiede den edeln Gaſt auch noch einmal begrüßen. Nachdem ſie einen langen bewundern¬ den Blick auf die edle Heldengeſtalt des Mannes gewor¬ fen, ſprach ſie endlich, indem ſie den Hineintretenden ſanft aufhielt: „Heil dir und Segen, edler Gaſt! Ge¬ denke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir ja doch dein Leben verdankeſt!“ Gerührt antwortete ihr
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Es war um Sonnenuntergang, als die Geſchenke
ankamen, und alle vor der Königin niedergelegt wurden.
Sie hieß Alcinous auch noch eine zierliche Lade für die
Gewande herbeiſchaffen; darein wurden die Gaben gelegt
und für Odyſſeus in den Palaſt getragen. Dort fügte
der König, der ſich mit der ganzen Geſellſchaft in ſeine
Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köſt¬
lichen Gewanden hinzu, und außerdem ein herrliches
goldenes Gefäß. Dem Gaſte wurde ein Bad bereitet,
indem zeigte ihm die Königin ſelbſt alle die köſtlichen
Geſchenke in der offenen Lade und ſprach dazu: „Be¬
trachte dir den Deckel ſelbſt genau und verſchließe die
Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa ſchläfſt, wäh¬
rend der Heimfahrt beraube, und die ſchöne Kiſte da¬
vontrage!“ Odyſſeus ſchlug den Deckel ſorgfältig ein,
und verſchloß die Lade mit einem vielfach verſchlungenen
Knoten; dann erquickte er ſich im warmen Bade, und
wollte nun wieder in die Geſellſchaft der zu Schmaus und
Trunk niedergeſeſſenen Männer zurückkehren. Da fand
er vor dem Thürpfoſten des Saales beim Eingang in
denſelben die holdſelige Jungfrau Nauſikaa ſtehen, welche
er ſeit ſeinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt
hatte, und welche ſeither züchtiglich und ferne von den
Männerfeſten im Frauengemache verſchloſſen gelebt; nun
aber wollte ſie zum Abſchiede den edeln Gaſt auch noch
einmal begrüßen. Nachdem ſie einen langen bewundern¬
den Blick auf die edle Heldengeſtalt des Mannes gewor¬
fen, ſprach ſie endlich, indem ſie den Hineintretenden
ſanft aufhielt: „Heil dir und Segen, edler Gaſt! Ge¬
denke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir
ja doch dein Leben verdankeſt!“ Gerührt antwortete ihr
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/142>, abgerufen am 23.11.2024.
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