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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es
Zeuge solchen Hochsinnes ward. Nun gebot Talthybius,
der Herold, in der Mitte stehend, Stillschweigen und
Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken schnei¬
denden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar
in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt trat Achilles in
voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte vor
den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch
seinen Entschluß. Er warf das Schwert auf die Erde,
besprengte den Altar mit Weihwasser, ergriff den Opfer¬
korb, umwandelte den Festaltar wie ein Priester und
sprach: "O hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige,
freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des schönen Jung¬
frauennackens, das Agamemnon und Griechenlands Heer
dir jetzo weiht, gnädig an, gib unsern Schiffen glückliche
Fahrt, und Troja's Sturz unsern Speeren!" Die Atriden
und das ganze Heer standen stumm zur Erde blickend.
Der Priester Kalchas nahm seinen Stahl, betete, und
faßte die Kehle der Jungfrau scharf ins Auge. Deut¬
lich hörte man den Fall seines Schlages. Aber, o Wun¬
der, in demselben Augenblicke war die Jungfrau aus den
Augen des Heeres verschwunden. Diana hatte sich ihrer
erbarmt und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher
Gestalt lag zappelnd auf dem Boden und besprengte mit
reichlichem Opferblute den Altar. "Ihr Führer des ver¬
einten Griechenheeres," rief Kalchas, nachdem er sich von
seinem freudigen Staunen erholt hatte, "sehet hier das
Opfer, welches die Göttin Artemis gesandt hat, und das
ihr willkommner ist, als die Jungfrau, deren edles Blut
den Altar nicht besudeln sollte. Die Göttin ist versöhnt,
gibt unsern Schiffen fröhliche Fahrt und verspricht uns

Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es
Zeuge ſolchen Hochſinnes ward. Nun gebot Talthybius,
der Herold, in der Mitte ſtehend, Stillſchweigen und
Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken ſchnei¬
denden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar
in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt trat Achilles in
voller Waffenrüſtung und mit gezücktem Schwerte vor
den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch
ſeinen Entſchluß. Er warf das Schwert auf die Erde,
beſprengte den Altar mit Weihwaſſer, ergriff den Opfer¬
korb, umwandelte den Feſtaltar wie ein Prieſter und
ſprach: „O hohe Göttin Artemis, nimm dieſes heilige,
freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des ſchönen Jung¬
frauennackens, das Agamemnon und Griechenlands Heer
dir jetzo weiht, gnädig an, gib unſern Schiffen glückliche
Fahrt, und Troja's Sturz unſern Speeren!“ Die Atriden
und das ganze Heer ſtanden ſtumm zur Erde blickend.
Der Prieſter Kalchas nahm ſeinen Stahl, betete, und
faßte die Kehle der Jungfrau ſcharf ins Auge. Deut¬
lich hörte man den Fall ſeines Schlages. Aber, o Wun¬
der, in demſelben Augenblicke war die Jungfrau aus den
Augen des Heeres verſchwunden. Diana hatte ſich ihrer
erbarmt und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher
Geſtalt lag zappelnd auf dem Boden und beſprengte mit
reichlichem Opferblute den Altar. „Ihr Führer des ver¬
einten Griechenheeres,“ rief Kalchas, nachdem er ſich von
ſeinem freudigen Staunen erholt hatte, „ſehet hier das
Opfer, welches die Göttin Artemis geſandt hat, und das
ihr willkommner iſt, als die Jungfrau, deren edles Blut
den Altar nicht beſudeln ſollte. Die Göttin iſt verſöhnt,
gibt unſern Schiffen fröhliche Fahrt und verſpricht uns

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[44/0066] Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es Zeuge ſolchen Hochſinnes ward. Nun gebot Talthybius, der Herold, in der Mitte ſtehend, Stillſchweigen und Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken ſchnei¬ denden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt trat Achilles in voller Waffenrüſtung und mit gezücktem Schwerte vor den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch ſeinen Entſchluß. Er warf das Schwert auf die Erde, beſprengte den Altar mit Weihwaſſer, ergriff den Opfer¬ korb, umwandelte den Feſtaltar wie ein Prieſter und ſprach: „O hohe Göttin Artemis, nimm dieſes heilige, freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des ſchönen Jung¬ frauennackens, das Agamemnon und Griechenlands Heer dir jetzo weiht, gnädig an, gib unſern Schiffen glückliche Fahrt, und Troja's Sturz unſern Speeren!“ Die Atriden und das ganze Heer ſtanden ſtumm zur Erde blickend. Der Prieſter Kalchas nahm ſeinen Stahl, betete, und faßte die Kehle der Jungfrau ſcharf ins Auge. Deut¬ lich hörte man den Fall ſeines Schlages. Aber, o Wun¬ der, in demſelben Augenblicke war die Jungfrau aus den Augen des Heeres verſchwunden. Diana hatte ſich ihrer erbarmt und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher Geſtalt lag zappelnd auf dem Boden und beſprengte mit reichlichem Opferblute den Altar. „Ihr Führer des ver¬ einten Griechenheeres,“ rief Kalchas, nachdem er ſich von ſeinem freudigen Staunen erholt hatte, „ſehet hier das Opfer, welches die Göttin Artemis geſandt hat, und das ihr willkommner iſt, als die Jungfrau, deren edles Blut den Altar nicht beſudeln ſollte. Die Göttin iſt verſöhnt, gibt unſern Schiffen fröhliche Fahrt und verſpricht uns

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/66>, abgerufen am 24.11.2024.