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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod.

Es geschah unter Jubelruf, wie Nestor gerathen hatte;
die Schiffe wurden fertig gemacht, sämmtliche Güter an
Bord gebracht, die Gefangenen zuerst, weinend und weh¬
klagend, eingeschifft, alsdann folgten die Danaer selbst.
Nur der Seher Kalchas schloß sich ihnen nicht an, er¬
mahnte sie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen,
denn sein wahrsagender Geist ließ ihn ein großes Un¬
heil ahnen, das die Griechen an den kapharischen Fel¬
sen bedrohe, welche ein Vorgebirge der Insel Euböa
umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach
Griechenland vorübersegeln mußte. Aber ihm folgte Kei¬
ner; das Verlangen nach der süßen Heimath hatte alle
Herzen bethört; endlich zog Amphilochus, der Sohn des
berühmten Sehers Amphiaraus, den der Boden vor Thebe
verschlungen hatte, den Fuß, den er schon ins Schiff ge¬
setzt hatte, zurück. In seinem Geiste dämmerte die Se¬
hergabe seines Vaters auf, und er wurde sich gleicher
Ahnung bewußt, wie Kalchas. So blieb er bei diesem
zurück. Ihnen beiden war vom Schicksal bestimmt, das
griechische Heimathland nicht wieder zu erblicken, sondern
sie sollten in den cilicischen und pamphylischen Städten
Kleinasiens sich ihre Wohnsitze gründen.

Alle andern Achiver lösten indessen die Taue, mit
welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben
eilig die Anker empor. Bald umspülte das freie Meer die
Dahinsegelnden. Auf den Vordertheilen der Schiffe lagen
überall Waffen erschlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen

Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod.

Es geſchah unter Jubelruf, wie Neſtor gerathen hatte;
die Schiffe wurden fertig gemacht, ſämmtliche Güter an
Bord gebracht, die Gefangenen zuerſt, weinend und weh¬
klagend, eingeſchifft, alsdann folgten die Danaer ſelbſt.
Nur der Seher Kalchas ſchloß ſich ihnen nicht an, er¬
mahnte ſie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen,
denn ſein wahrſagender Geiſt ließ ihn ein großes Un¬
heil ahnen, das die Griechen an den kaphariſchen Fel¬
ſen bedrohe, welche ein Vorgebirge der Inſel Euböa
umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach
Griechenland vorüberſegeln mußte. Aber ihm folgte Kei¬
ner; das Verlangen nach der ſüßen Heimath hatte alle
Herzen bethört; endlich zog Amphilochus, der Sohn des
berühmten Sehers Amphiaraus, den der Boden vor Thebe
verſchlungen hatte, den Fuß, den er ſchon ins Schiff ge¬
ſetzt hatte, zurück. In ſeinem Geiſte dämmerte die Se¬
hergabe ſeines Vaters auf, und er wurde ſich gleicher
Ahnung bewußt, wie Kalchas. So blieb er bei dieſem
zurück. Ihnen beiden war vom Schickſal beſtimmt, das
griechiſche Heimathland nicht wieder zu erblicken, ſondern
ſie ſollten in den ciliciſchen und pamphyliſchen Städten
Kleinaſiens ſich ihre Wohnſitze gründen.

Alle andern Achiver lösten indeſſen die Taue, mit
welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben
eilig die Anker empor. Bald umſpülte das freie Meer die
Dahinſegelnden. Auf den Vordertheilen der Schiffe lagen
überall Waffen erſchlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen

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[431/0453] Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod. Es geſchah unter Jubelruf, wie Neſtor gerathen hatte; die Schiffe wurden fertig gemacht, ſämmtliche Güter an Bord gebracht, die Gefangenen zuerſt, weinend und weh¬ klagend, eingeſchifft, alsdann folgten die Danaer ſelbſt. Nur der Seher Kalchas ſchloß ſich ihnen nicht an, er¬ mahnte ſie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen, denn ſein wahrſagender Geiſt ließ ihn ein großes Un¬ heil ahnen, das die Griechen an den kaphariſchen Fel¬ ſen bedrohe, welche ein Vorgebirge der Inſel Euböa umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach Griechenland vorüberſegeln mußte. Aber ihm folgte Kei¬ ner; das Verlangen nach der ſüßen Heimath hatte alle Herzen bethört; endlich zog Amphilochus, der Sohn des berühmten Sehers Amphiaraus, den der Boden vor Thebe verſchlungen hatte, den Fuß, den er ſchon ins Schiff ge¬ ſetzt hatte, zurück. In ſeinem Geiſte dämmerte die Se¬ hergabe ſeines Vaters auf, und er wurde ſich gleicher Ahnung bewußt, wie Kalchas. So blieb er bei dieſem zurück. Ihnen beiden war vom Schickſal beſtimmt, das griechiſche Heimathland nicht wieder zu erblicken, ſondern ſie ſollten in den ciliciſchen und pamphyliſchen Städten Kleinaſiens ſich ihre Wohnſitze gründen. Alle andern Achiver lösten indeſſen die Taue, mit welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben eilig die Anker empor. Bald umſpülte das freie Meer die Dahinſegelnden. Auf den Vordertheilen der Schiffe lagen überall Waffen erſchlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/453>, abgerufen am 28.03.2024.