aller Art. Da sprang die Königstochter aus der Schaar der gefangenen Frauen hervor, ergriff einen scharfgeschliffenen Stahl, der unter den andern Geräth¬ schaften bereit lag, und, wie ein Opfer vor dem Altare stehend, stieß sie sich den Dolch, ohne ein Wort zu spre¬ chen, ins Herz, und sank, ohne einen Seufzer aus der Brust, zu Boden.
Ein Schrei der Wehklage ließ sich aus dem ganzen Argiverheere vernehmen. Hekuba, die greise Königin, warf sich laut weinend auf die Leiche der Tochter, und von Neuem hallte das laute Schluchzen unter der Schaar der gefangenen Trojanerinnen.
In dem Augenblicke, wo Polyxena zusammensank und der purpurne Blutstrahl ihr aus der durchbohrten Brust drang, wurde das Meer ruhig, und seine Wellen ebneten sich in spiegelglatte Fläche. Neoptolemus eilte voll Mit¬ leid herbei, half die geopferte Jungfrau vom Altare weg¬ bringen, und sorgte dafür, daß sie mit königlichen Ehren bestattet wurde. In der Versammlung der Argiver aber erhub sich Nestor und sprach herzerfreuende Worte: "End¬ lich," rief der Greis, "ihr lieben Landsleute, ist die er¬ laubte Stunde der Heimkehr genaht; der Beherrscher des Meeres hat die Wogen gebändigt, nirgendsher erhebt sich die Fluth; Achilles ist zufrieden gestellt; er nimmt das Opfer Polyxena's an. Auf denn, lasset uns ernstlich an den Aufbruch denken, und ziehet die Schiffe ins Meer!"
aller Art. Da ſprang die Königstochter aus der Schaar der gefangenen Frauen hervor, ergriff einen ſcharfgeſchliffenen Stahl, der unter den andern Geräth¬ ſchaften bereit lag, und, wie ein Opfer vor dem Altare ſtehend, ſtieß ſie ſich den Dolch, ohne ein Wort zu ſpre¬ chen, ins Herz, und ſank, ohne einen Seufzer aus der Bruſt, zu Boden.
Ein Schrei der Wehklage ließ ſich aus dem ganzen Argiverheere vernehmen. Hekuba, die greiſe Königin, warf ſich laut weinend auf die Leiche der Tochter, und von Neuem hallte das laute Schluchzen unter der Schaar der gefangenen Trojanerinnen.
In dem Augenblicke, wo Polyxena zuſammenſank und der purpurne Blutſtrahl ihr aus der durchbohrten Bruſt drang, wurde das Meer ruhig, und ſeine Wellen ebneten ſich in ſpiegelglatte Fläche. Neoptolemus eilte voll Mit¬ leid herbei, half die geopferte Jungfrau vom Altare weg¬ bringen, und ſorgte dafür, daß ſie mit königlichen Ehren beſtattet wurde. In der Verſammlung der Argiver aber erhub ſich Neſtor und ſprach herzerfreuende Worte: „End¬ lich,“ rief der Greis, „ihr lieben Landsleute, iſt die er¬ laubte Stunde der Heimkehr genaht; der Beherrſcher des Meeres hat die Wogen gebändigt, nirgendsher erhebt ſich die Fluth; Achilles iſt zufrieden geſtellt; er nimmt das Opfer Polyxena's an. Auf denn, laſſet uns ernſtlich an den Aufbruch denken, und ziehet die Schiffe ins Meer!“
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aller Art. Da ſprang die Königstochter aus der
Schaar der gefangenen Frauen hervor, ergriff einen
ſcharfgeſchliffenen Stahl, der unter den andern Geräth¬
ſchaften bereit lag, und, wie ein Opfer vor dem Altare
ſtehend, ſtieß ſie ſich den Dolch, ohne ein Wort zu ſpre¬
chen, ins Herz, und ſank, ohne einen Seufzer aus der
Bruſt, zu Boden.
Ein Schrei der Wehklage ließ ſich aus dem ganzen
Argiverheere vernehmen. Hekuba, die greiſe Königin,
warf ſich laut weinend auf die Leiche der Tochter, und
von Neuem hallte das laute Schluchzen unter der Schaar
der gefangenen Trojanerinnen.
In dem Augenblicke, wo Polyxena zuſammenſank und
der purpurne Blutſtrahl ihr aus der durchbohrten Bruſt
drang, wurde das Meer ruhig, und ſeine Wellen ebneten
ſich in ſpiegelglatte Fläche. Neoptolemus eilte voll Mit¬
leid herbei, half die geopferte Jungfrau vom Altare weg¬
bringen, und ſorgte dafür, daß ſie mit königlichen Ehren
beſtattet wurde. In der Verſammlung der Argiver aber
erhub ſich Neſtor und ſprach herzerfreuende Worte: „End¬
lich,“ rief der Greis, „ihr lieben Landsleute, iſt die er¬
laubte Stunde der Heimkehr genaht; der Beherrſcher des
Meeres hat die Wogen gebändigt, nirgendsher erhebt ſich
die Fluth; Achilles iſt zufrieden geſtellt; er nimmt das
Opfer Polyxena's an. Auf denn, laſſet uns ernſtlich an
den Aufbruch denken, und ziehet die Schiffe ins Meer!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/452>, abgerufen am 25.11.2024.
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