"Höre, Volk der Danaer," rief er mit seiner jugend¬ lichen Kraftstimme, "was in dieser Nacht der Geist meines unsterblichen Vaters, der mich im Traume besucht hat, mir aufgetragen, euch zu verkündigen: Ihr sollet das Edelste und Beste der trojanischen Beute ihm opfern, damit sich sein Herz am Untergange der verhaßten Stadt auch sättigen könne, und er des Siegerpreises nicht ver¬ lustig gehe. Eher sollt ihr diesen Strand nicht verlassen, bis ihr die heilige Pflicht gegen den Todten erfüllt habt, dem ihr doch eigentlich die Eroberung Troja's verdanket. Denn ohne daß Hektor besiegt worden, wäret ihr nimmer¬ mehr so weit gekommen!"
Ehrerbietig beschlossen die Danaer, den Willen ihres verstorbenen Helden zu befolgen, und Neptunus, aus Liebe zu dem Peliden, regte die Fluth zu mächtigem Sturme auf, so daß das Meer in thurmhohen Wellen aufbrauste, und die Griechen, auch wenn sie es gewollt hätten, nicht im Stande gewesen wären, den Strand zu verlassen. Als die Völker aber die empörte See erblickten und stür¬ men hörten, da flüsterten sie sich gegenseitig zu: "Ja, wahrhaftig stammte Achilles vom höchsten Jupiter ab: denn sehet ihr, wie sich die Elemente mit seinen Befehlen verbünden!" Und so zeigten sie sich nur noch williger, dem Gebote des Hingeschiedenen zu gehorchen, und ström¬ ten zu Haufen dem Grabmale des Helden, das den Mee¬ resstrand hoch überragte, zu.
Nun entstand aber die Frage: was soll geopfert werden, und was ist das Beste und Edelste der ganzen Beute Troja's? Jeder Grieche brachte unweigerlich seine Beute an Schätzen und Gefangenen herbei. Als man aber Alles musterte, da erbleichte Gold, Silber, Edelstein
„Höre, Volk der Danaer,“ rief er mit ſeiner jugend¬ lichen Kraftſtimme, „was in dieſer Nacht der Geiſt meines unſterblichen Vaters, der mich im Traume beſucht hat, mir aufgetragen, euch zu verkündigen: Ihr ſollet das Edelſte und Beſte der trojaniſchen Beute ihm opfern, damit ſich ſein Herz am Untergange der verhaßten Stadt auch ſättigen könne, und er des Siegerpreiſes nicht ver¬ luſtig gehe. Eher ſollt ihr dieſen Strand nicht verlaſſen, bis ihr die heilige Pflicht gegen den Todten erfüllt habt, dem ihr doch eigentlich die Eroberung Troja's verdanket. Denn ohne daß Hektor beſiegt worden, wäret ihr nimmer¬ mehr ſo weit gekommen!“
Ehrerbietig beſchloſſen die Danaer, den Willen ihres verſtorbenen Helden zu befolgen, und Neptunus, aus Liebe zu dem Peliden, regte die Fluth zu mächtigem Sturme auf, ſo daß das Meer in thurmhohen Wellen aufbrauste, und die Griechen, auch wenn ſie es gewollt hätten, nicht im Stande geweſen wären, den Strand zu verlaſſen. Als die Völker aber die empörte See erblickten und ſtür¬ men hörten, da flüſterten ſie ſich gegenſeitig zu: „Ja, wahrhaftig ſtammte Achilles vom höchſten Jupiter ab: denn ſehet ihr, wie ſich die Elemente mit ſeinen Befehlen verbünden!“ Und ſo zeigten ſie ſich nur noch williger, dem Gebote des Hingeſchiedenen zu gehorchen, und ſtröm¬ ten zu Haufen dem Grabmale des Helden, das den Mee¬ resſtrand hoch überragte, zu.
Nun entſtand aber die Frage: was ſoll geopfert werden, und was iſt das Beſte und Edelſte der ganzen Beute Troja's? Jeder Grieche brachte unweigerlich ſeine Beute an Schätzen und Gefangenen herbei. Als man aber Alles muſterte, da erbleichte Gold, Silber, Edelſtein
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„Höre, Volk der Danaer,“ rief er mit ſeiner jugend¬
lichen Kraftſtimme, „was in dieſer Nacht der Geiſt
meines unſterblichen Vaters, der mich im Traume beſucht
hat, mir aufgetragen, euch zu verkündigen: Ihr ſollet
das Edelſte und Beſte der trojaniſchen Beute ihm opfern,
damit ſich ſein Herz am Untergange der verhaßten Stadt
auch ſättigen könne, und er des Siegerpreiſes nicht ver¬
luſtig gehe. Eher ſollt ihr dieſen Strand nicht verlaſſen,
bis ihr die heilige Pflicht gegen den Todten erfüllt habt,
dem ihr doch eigentlich die Eroberung Troja's verdanket.
Denn ohne daß Hektor beſiegt worden, wäret ihr nimmer¬
mehr ſo weit gekommen!“
Ehrerbietig beſchloſſen die Danaer, den Willen ihres
verſtorbenen Helden zu befolgen, und Neptunus, aus Liebe
zu dem Peliden, regte die Fluth zu mächtigem Sturme
auf, ſo daß das Meer in thurmhohen Wellen aufbrauste,
und die Griechen, auch wenn ſie es gewollt hätten, nicht
im Stande geweſen wären, den Strand zu verlaſſen.
Als die Völker aber die empörte See erblickten und ſtür¬
men hörten, da flüſterten ſie ſich gegenſeitig zu: „Ja,
wahrhaftig ſtammte Achilles vom höchſten Jupiter ab:
denn ſehet ihr, wie ſich die Elemente mit ſeinen Befehlen
verbünden!“ Und ſo zeigten ſie ſich nur noch williger,
dem Gebote des Hingeſchiedenen zu gehorchen, und ſtröm¬
ten zu Haufen dem Grabmale des Helden, das den Mee¬
resſtrand hoch überragte, zu.
Nun entſtand aber die Frage: was ſoll geopfert
werden, und was iſt das Beſte und Edelſte der ganzen
Beute Troja's? Jeder Grieche brachte unweigerlich ſeine
Beute an Schätzen und Gefangenen herbei. Als man
aber Alles muſterte, da erbleichte Gold, Silber, Edelſtein
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/450>, abgerufen am 22.11.2024.
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