dem Heere die Thaten seines größten Helden, des Achilles, in das Gedächtniß zurück. So dauerte die Fröhlichkeit bis in die Nacht; dann brachen sie auf, ein Jeglicher in sein Zelt.
Als nun Helena mit ihrem Gemahl Menelaus allein in seinem Feldherrnzelte war, warf sie sich ihm zu Füßen, umfaßte seine Kniee und sprach: "Ich weiß wohl, daß du ein Recht hättest, deine treulose Gattin mit dem Tode zu bestrafen! Aber bedenke, edler Gemahl, daß ich deinen Pallast zu Sparta nicht freiwillig verlassen habe; gewalt¬ sam entführte mich der trügerische Paris, als du eben ab¬ wesend von Hause warest und mir deinen männlichen Schutz nicht angedeihen lassen konntest. Und als ich selbst Hand an mich zu legen gedachte, und den Strick um mei¬ nen Hals zu winden, oder mir das Schwert in den Busen zu stoßen, da hielten mich die Dienerinnen des Hauses zurück, und beschworen mich, deiner selbst und unseres blühenden kleinen Töchterleins eingedenk zu seyn! Thue nun nach deinem Willen mit mir; ich liege als Reumü¬ thige und Schutzflehende zugleich zu deinen Füßen!"
Menelaus hob sie liebreich vom Boden auf und ant¬ wortete mit verständiger Mäßigung: "Denke nicht länger an das Vergangene, Helena, und ängstige dich nicht mit überflüssiger Furcht: was geschehen ist, sey in die Nacht der Vergangenheit versenkt, und keines früheren Fehlers hinfort von mir gedacht." Damit schloß er sie in seine Arme und drückte ihren Lippen den Kuß der Versöhnung auf. Aus beider Wimpern rollte die Thräne süßer und wehmüthiger Rührung.
Neoptolemus, der Sohn des Achilles, lag um diese Stunde schon in tiefem Schlafe. Da trat zu ihm im Traume an sein Zeltlager der Geist seines hohen Vaters,
dem Heere die Thaten ſeines größten Helden, des Achilles, in das Gedächtniß zurück. So dauerte die Fröhlichkeit bis in die Nacht; dann brachen ſie auf, ein Jeglicher in ſein Zelt.
Als nun Helena mit ihrem Gemahl Menelaus allein in ſeinem Feldherrnzelte war, warf ſie ſich ihm zu Füßen, umfaßte ſeine Kniee und ſprach: „Ich weiß wohl, daß du ein Recht hätteſt, deine treuloſe Gattin mit dem Tode zu beſtrafen! Aber bedenke, edler Gemahl, daß ich deinen Pallaſt zu Sparta nicht freiwillig verlaſſen habe; gewalt¬ ſam entführte mich der trügeriſche Paris, als du eben ab¬ weſend von Hauſe wareſt und mir deinen männlichen Schutz nicht angedeihen laſſen konnteſt. Und als ich ſelbſt Hand an mich zu legen gedachte, und den Strick um mei¬ nen Hals zu winden, oder mir das Schwert in den Buſen zu ſtoßen, da hielten mich die Dienerinnen des Hauſes zurück, und beſchworen mich, deiner ſelbſt und unſeres blühenden kleinen Töchterleins eingedenk zu ſeyn! Thue nun nach deinem Willen mit mir; ich liege als Reumü¬ thige und Schutzflehende zugleich zu deinen Füßen!“
Menelaus hob ſie liebreich vom Boden auf und ant¬ wortete mit verſtändiger Mäßigung: „Denke nicht länger an das Vergangene, Helena, und ängſtige dich nicht mit überflüſſiger Furcht: was geſchehen iſt, ſey in die Nacht der Vergangenheit verſenkt, und keines früheren Fehlers hinfort von mir gedacht.“ Damit ſchloß er ſie in ſeine Arme und drückte ihren Lippen den Kuß der Verſöhnung auf. Aus beider Wimpern rollte die Thräne ſüßer und wehmüthiger Rührung.
Neoptolemus, der Sohn des Achilles, lag um dieſe Stunde ſchon in tiefem Schlafe. Da trat zu ihm im Traume an ſein Zeltlager der Geiſt ſeines hohen Vaters,
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dem Heere die Thaten ſeines größten Helden, des Achilles,
in das Gedächtniß zurück. So dauerte die Fröhlichkeit bis in
die Nacht; dann brachen ſie auf, ein Jeglicher in ſein Zelt.
Als nun Helena mit ihrem Gemahl Menelaus allein
in ſeinem Feldherrnzelte war, warf ſie ſich ihm zu Füßen,
umfaßte ſeine Kniee und ſprach: „Ich weiß wohl, daß du
ein Recht hätteſt, deine treuloſe Gattin mit dem Tode zu
beſtrafen! Aber bedenke, edler Gemahl, daß ich deinen
Pallaſt zu Sparta nicht freiwillig verlaſſen habe; gewalt¬
ſam entführte mich der trügeriſche Paris, als du eben ab¬
weſend von Hauſe wareſt und mir deinen männlichen
Schutz nicht angedeihen laſſen konnteſt. Und als ich ſelbſt
Hand an mich zu legen gedachte, und den Strick um mei¬
nen Hals zu winden, oder mir das Schwert in den Buſen
zu ſtoßen, da hielten mich die Dienerinnen des Hauſes
zurück, und beſchworen mich, deiner ſelbſt und unſeres
blühenden kleinen Töchterleins eingedenk zu ſeyn! Thue
nun nach deinem Willen mit mir; ich liege als Reumü¬
thige und Schutzflehende zugleich zu deinen Füßen!“
Menelaus hob ſie liebreich vom Boden auf und ant¬
wortete mit verſtändiger Mäßigung: „Denke nicht länger
an das Vergangene, Helena, und ängſtige dich nicht mit
überflüſſiger Furcht: was geſchehen iſt, ſey in die Nacht
der Vergangenheit verſenkt, und keines früheren Fehlers
hinfort von mir gedacht.“ Damit ſchloß er ſie in ſeine
Arme und drückte ihren Lippen den Kuß der Verſöhnung
auf. Aus beider Wimpern rollte die Thräne ſüßer und
wehmüthiger Rührung.
Neoptolemus, der Sohn des Achilles, lag um dieſe
Stunde ſchon in tiefem Schlafe. Da trat zu ihm im
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/448>, abgerufen am 22.11.2024.
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