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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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den Grimm aus seiner Brust und erweckte in seinem Her¬
zen die alte Liebe. Es war ihm unmöglich, bei dem An¬
blicke ihrer überirdischen Schönheit das Schwert auf's
Neue zu erheben; die Stärke brach ihm zusammen, und
einen Augenblick vergaß er Alles, was sie verschuldet
hatte. Da hörte er die den Pallast durchtobenden Argiver
hinter sich, und ein Gefühl der Schaam ergriff ihn, indem
er bedachte, daß er vor seinem treulosen Weibe nicht wie
ein Rächer, sondern wie ein Sklave dastehe. Wider Wil¬
len raffte er das Schwert, das er auf die Erde geworfen,
wieder auf, bezwang seine Neigung, und drang von Neuem
auf die Gattin ein. Doch im Herzen war es ihm nicht
Ernst, und willkommen erschien ihm daher sein Bruder
Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm stehend, die Hand
auf seine Schulter legte, und ihm zurief: "Laß ab, lieber
Bruder Menelaus! es ziemt sich nicht, daß du dein
eheliches Weib, um welches wir so viele Leiden erduldet
haben, erschlagest! Lastet doch die Schuld weniger auf
Helena, wie mir däucht, als auf Paris, welcher so
schnöde das Gastrecht gebrochen hat. Dieser aber, sein
ganzes Geschlecht, sein ganzes Volk sind ja jetzt bestraft
und vernichtet!" So sprach Agamemnon, und Menelaus
gehorchte ihm zögernd, aber mit Freuden.

Während dieß auf Erden vorging, beklagten die Un¬
sterblichen, in dunkle Wolken eingehüllt, den Fall Troja's.
Nur Juno, die Todfeindin der Trojaner, und Thetis, die
Mutter des frühe dahingesunkenen Achilles, jauchzten im
Herzen vor Lust auf. Pallas Athene selbst, der doch durch
Troja's Untergang ihr Wille geschehen war, konnte sich
der Thränen nicht enthalten, als sie sah, wie Ajax, der
wilde Sohn des Oileus, in ihrem Heiligthum es wagte,

den Grimm aus ſeiner Bruſt und erweckte in ſeinem Her¬
zen die alte Liebe. Es war ihm unmöglich, bei dem An¬
blicke ihrer überirdiſchen Schönheit das Schwert auf's
Neue zu erheben; die Stärke brach ihm zuſammen, und
einen Augenblick vergaß er Alles, was ſie verſchuldet
hatte. Da hörte er die den Pallaſt durchtobenden Argiver
hinter ſich, und ein Gefühl der Schaam ergriff ihn, indem
er bedachte, daß er vor ſeinem treuloſen Weibe nicht wie
ein Rächer, ſondern wie ein Sklave daſtehe. Wider Wil¬
len raffte er das Schwert, das er auf die Erde geworfen,
wieder auf, bezwang ſeine Neigung, und drang von Neuem
auf die Gattin ein. Doch im Herzen war es ihm nicht
Ernſt, und willkommen erſchien ihm daher ſein Bruder
Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm ſtehend, die Hand
auf ſeine Schulter legte, und ihm zurief: „Laß ab, lieber
Bruder Menelaus! es ziemt ſich nicht, daß du dein
eheliches Weib, um welches wir ſo viele Leiden erduldet
haben, erſchlageſt! Laſtet doch die Schuld weniger auf
Helena, wie mir däucht, als auf Paris, welcher ſo
ſchnöde das Gaſtrecht gebrochen hat. Dieſer aber, ſein
ganzes Geſchlecht, ſein ganzes Volk ſind ja jetzt beſtraft
und vernichtet!“ So ſprach Agamemnon, und Menelaus
gehorchte ihm zögernd, aber mit Freuden.

Während dieß auf Erden vorging, beklagten die Un¬
ſterblichen, in dunkle Wolken eingehüllt, den Fall Troja's.
Nur Juno, die Todfeindin der Trojaner, und Thetis, die
Mutter des frühe dahingeſunkenen Achilles, jauchzten im
Herzen vor Luſt auf. Pallas Athene ſelbſt, der doch durch
Troja's Untergang ihr Wille geſchehen war, konnte ſich
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[423/0445] den Grimm aus ſeiner Bruſt und erweckte in ſeinem Her¬ zen die alte Liebe. Es war ihm unmöglich, bei dem An¬ blicke ihrer überirdiſchen Schönheit das Schwert auf's Neue zu erheben; die Stärke brach ihm zuſammen, und einen Augenblick vergaß er Alles, was ſie verſchuldet hatte. Da hörte er die den Pallaſt durchtobenden Argiver hinter ſich, und ein Gefühl der Schaam ergriff ihn, indem er bedachte, daß er vor ſeinem treuloſen Weibe nicht wie ein Rächer, ſondern wie ein Sklave daſtehe. Wider Wil¬ len raffte er das Schwert, das er auf die Erde geworfen, wieder auf, bezwang ſeine Neigung, und drang von Neuem auf die Gattin ein. Doch im Herzen war es ihm nicht Ernſt, und willkommen erſchien ihm daher ſein Bruder Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm ſtehend, die Hand auf ſeine Schulter legte, und ihm zurief: „Laß ab, lieber Bruder Menelaus! es ziemt ſich nicht, daß du dein eheliches Weib, um welches wir ſo viele Leiden erduldet haben, erſchlageſt! Laſtet doch die Schuld weniger auf Helena, wie mir däucht, als auf Paris, welcher ſo ſchnöde das Gaſtrecht gebrochen hat. Dieſer aber, ſein ganzes Geſchlecht, ſein ganzes Volk ſind ja jetzt beſtraft und vernichtet!“ So ſprach Agamemnon, und Menelaus gehorchte ihm zögernd, aber mit Freuden. Während dieß auf Erden vorging, beklagten die Un¬ ſterblichen, in dunkle Wolken eingehüllt, den Fall Troja's. Nur Juno, die Todfeindin der Trojaner, und Thetis, die Mutter des frühe dahingeſunkenen Achilles, jauchzten im Herzen vor Luſt auf. Pallas Athene ſelbſt, der doch durch Troja's Untergang ihr Wille geſchehen war, konnte ſich der Thränen nicht enthalten, als ſie ſah, wie Ajax, der wilde Sohn des Oïleus, in ihrem Heiligthum es wagte,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/445>, abgerufen am 22.11.2024.