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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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warfen sie die Anker aus, stiegen ans Land und sahen
mit sehnendem Herzen dem Feuerzeichen entgegen.

Die Trojaner bemerkten es bald, wie am Hellespont
der Rauch in die Lüfte emporwirbelte, und als sie von
den Mauern aufmerksamer nach dem Gestade hinabspäh¬
ten, waren auch die Schiffe der Griechen verschwunden.
Voll Freuden strömten sie in Schaaren dem Ufer zu; doch
vergaßen sie nicht, sich in ihre Rüstungen zu hüllen, denn
sie waren der Furcht noch nicht ganz los. Als sie nun
auf der Stelle des alten feindlichen Lagers das glatte
hölzerne Pferd gewahr wurden, stellten sie sich staunend
rings um dasselbe her, denn es war ein gar gewalti¬
ges Werk. Während sie noch darüber stritten, was mit
dem seltsamen Wunderdinge anzufangen sey, und die
Einen der Meinung waren, es in die Stadt zu schaffen
und als Siegesdenkmal für alle Zukunft auf der Burg
aufzustellen, die Andern das unheimliche Gastgeschenk der
Griechen in die See zu werfen oder zu verbrennen rie¬
then, eine Berathung, der die im Bauche des Pferdes
eingeschlossenen griechischen Helden zu ihrer Qual zuhören
mußten: da trat mit eiligen Schritten Laokoon, der troja¬
nische Priester des Apollo, in die Mitte des gaffenden
Volkes, und rief schon von weitem: "Unselige Mitbürger,
welcher Wahnsinn treibt euch? Meinet ihr, die Griechen
seyen wirklich davongeschifft, oder eine Gabe der Danaer
verberge keinen Betrug? Kennet ihr den Odysseus so?
Entweder ist irgend eine Gefahr in dem Rosse verborgen,
oder es ist eine Kriegsmaschine, die von den in der Nähe
lauernden Feinden gegen unsre Stadt angetrieben werden
wird! Was es aber auch seyn mag, trauet dem Thiere
nicht!" Mit diesen Worten stieß er eine mächtige eiserne

warfen ſie die Anker aus, ſtiegen ans Land und ſahen
mit ſehnendem Herzen dem Feuerzeichen entgegen.

Die Trojaner bemerkten es bald, wie am Helleſpont
der Rauch in die Lüfte emporwirbelte, und als ſie von
den Mauern aufmerkſamer nach dem Geſtade hinabſpäh¬
ten, waren auch die Schiffe der Griechen verſchwunden.
Voll Freuden ſtrömten ſie in Schaaren dem Ufer zu; doch
vergaßen ſie nicht, ſich in ihre Rüſtungen zu hüllen, denn
ſie waren der Furcht noch nicht ganz los. Als ſie nun
auf der Stelle des alten feindlichen Lagers das glatte
hölzerne Pferd gewahr wurden, ſtellten ſie ſich ſtaunend
rings um daſſelbe her, denn es war ein gar gewalti¬
ges Werk. Während ſie noch darüber ſtritten, was mit
dem ſeltſamen Wunderdinge anzufangen ſey, und die
Einen der Meinung waren, es in die Stadt zu ſchaffen
und als Siegesdenkmal für alle Zukunft auf der Burg
aufzuſtellen, die Andern das unheimliche Gaſtgeſchenk der
Griechen in die See zu werfen oder zu verbrennen rie¬
then, eine Berathung, der die im Bauche des Pferdes
eingeſchloſſenen griechiſchen Helden zu ihrer Qual zuhören
mußten: da trat mit eiligen Schritten Laokoon, der troja¬
niſche Prieſter des Apollo, in die Mitte des gaffenden
Volkes, und rief ſchon von weitem: „Unſelige Mitbürger,
welcher Wahnſinn treibt euch? Meinet ihr, die Griechen
ſeyen wirklich davongeſchifft, oder eine Gabe der Danaer
verberge keinen Betrug? Kennet ihr den Odyſſeus ſo?
Entweder iſt irgend eine Gefahr in dem Roſſe verborgen,
oder es iſt eine Kriegsmaſchine, die von den in der Nähe
lauernden Feinden gegen unſre Stadt angetrieben werden
wird! Was es aber auch ſeyn mag, trauet dem Thiere
nicht!“ Mit dieſen Worten ſtieß er eine mächtige eiſerne

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[410/0432] warfen ſie die Anker aus, ſtiegen ans Land und ſahen mit ſehnendem Herzen dem Feuerzeichen entgegen. Die Trojaner bemerkten es bald, wie am Helleſpont der Rauch in die Lüfte emporwirbelte, und als ſie von den Mauern aufmerkſamer nach dem Geſtade hinabſpäh¬ ten, waren auch die Schiffe der Griechen verſchwunden. Voll Freuden ſtrömten ſie in Schaaren dem Ufer zu; doch vergaßen ſie nicht, ſich in ihre Rüſtungen zu hüllen, denn ſie waren der Furcht noch nicht ganz los. Als ſie nun auf der Stelle des alten feindlichen Lagers das glatte hölzerne Pferd gewahr wurden, ſtellten ſie ſich ſtaunend rings um daſſelbe her, denn es war ein gar gewalti¬ ges Werk. Während ſie noch darüber ſtritten, was mit dem ſeltſamen Wunderdinge anzufangen ſey, und die Einen der Meinung waren, es in die Stadt zu ſchaffen und als Siegesdenkmal für alle Zukunft auf der Burg aufzuſtellen, die Andern das unheimliche Gaſtgeſchenk der Griechen in die See zu werfen oder zu verbrennen rie¬ then, eine Berathung, der die im Bauche des Pferdes eingeſchloſſenen griechiſchen Helden zu ihrer Qual zuhören mußten: da trat mit eiligen Schritten Laokoon, der troja¬ niſche Prieſter des Apollo, in die Mitte des gaffenden Volkes, und rief ſchon von weitem: „Unſelige Mitbürger, welcher Wahnſinn treibt euch? Meinet ihr, die Griechen ſeyen wirklich davongeſchifft, oder eine Gabe der Danaer verberge keinen Betrug? Kennet ihr den Odyſſeus ſo? Entweder iſt irgend eine Gefahr in dem Roſſe verborgen, oder es iſt eine Kriegsmaſchine, die von den in der Nähe lauernden Feinden gegen unſre Stadt angetrieben werden wird! Was es aber auch ſeyn mag, trauet dem Thiere nicht!“ Mit dieſen Worten ſtieß er eine mächtige eiſerne

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/432>, abgerufen am 22.11.2024.