Neoptolemus antwortete, wie Odysseus ihn gelehrt hatte; da brach Philoktetes in ein Freudengeschrei aus: "O theuer werthe griechische Laute, wie nach so langer Zeit tönet ihr in mein Ohr! O Sohn des liebsten Va¬ ters! Geliebtes Scyros! Guter Lykomedes! Und du, Pflegekind des Alten, was sprichst du da? So haben dich die Danaer denn auch nicht anders behandelt, als mich! Wisse, ich bin Philoktetes, der Sohn des Pöas, derselbe, den die Atriden und Odysseus einst, ganz verlassen, von entsetzlicher Krankheit gequält, auf unsrem Zuge nach Troja, hier aussetzten. Sorglos schlief ich am Strande der See unter diesem hohlen Felsendache; da entflohen sie treulos, hinterließen mir nur kümmerliche Lumpen, wie einem Bettler, und die nothdürftigste Kost, wie sie einst ihnen aufgespart seyn möge. Wie meinst du, liebes Kind, daß ich aus meinem Schlaf erwacht sey? mit welchen Thränen, welchem Angstgeschrei, als ich von dem ganzen Schiffszuge, der mich hieher geführt, keine Seele mehr erblickte, keinen Arzt, keine Hülfe für mein Uebel; gar nichts mehr ringsum, außer meinem Jammer, aber diesen freilich im Ueberfluß! Seitdem sind mir Armen Tage um Tage und Jahre um Jahre verlaufen, und unter die¬ sem engen Dache bin ich mein einziger Pfleger gewesen. Mein Bogen hier verschaffte mir die nöthigste Nahrung; aber wie jammervoll mußte ich mich, wenn mir eine Beute aus den Lüften zufiel, nach der Stelle hinschleppen, den kranken Fuß nachziehend. Und so oft ich einen Trunk aus der Quelle suchen, so oft ich von Winter zu Winter zur Feuerung meiner Höhle mir Holz im Walde fällen wollte, das Alles mußte ich, mit Mühe aus meiner Höhle hervorkriechend, selbst besorgen. Wiederum fehlte es mir
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Neoptolemus antwortete, wie Odyſſeus ihn gelehrt hatte; da brach Philoktetes in ein Freudengeſchrei aus: „O theuer werthe griechiſche Laute, wie nach ſo langer Zeit tönet ihr in mein Ohr! O Sohn des liebſten Va¬ ters! Geliebtes Scyros! Guter Lykomedes! Und du, Pflegekind des Alten, was ſprichſt du da? So haben dich die Danaer denn auch nicht anders behandelt, als mich! Wiſſe, ich bin Philoktetes, der Sohn des Pöas, derſelbe, den die Atriden und Odyſſeus einſt, ganz verlaſſen, von entſetzlicher Krankheit gequält, auf unſrem Zuge nach Troja, hier ausſetzten. Sorglos ſchlief ich am Strande der See unter dieſem hohlen Felſendache; da entflohen ſie treulos, hinterließen mir nur kümmerliche Lumpen, wie einem Bettler, und die nothdürftigſte Koſt, wie ſie einſt ihnen aufgeſpart ſeyn möge. Wie meinſt du, liebes Kind, daß ich aus meinem Schlaf erwacht ſey? mit welchen Thränen, welchem Angſtgeſchrei, als ich von dem ganzen Schiffszuge, der mich hieher geführt, keine Seele mehr erblickte, keinen Arzt, keine Hülfe für mein Uebel; gar nichts mehr ringsum, außer meinem Jammer, aber dieſen freilich im Ueberfluß! Seitdem ſind mir Armen Tage um Tage und Jahre um Jahre verlaufen, und unter die¬ ſem engen Dache bin ich mein einziger Pfleger geweſen. Mein Bogen hier verſchaffte mir die nöthigſte Nahrung; aber wie jammervoll mußte ich mich, wenn mir eine Beute aus den Lüften zufiel, nach der Stelle hinſchleppen, den kranken Fuß nachziehend. Und ſo oft ich einen Trunk aus der Quelle ſuchen, ſo oft ich von Winter zu Winter zur Feuerung meiner Höhle mir Holz im Walde fällen wollte, das Alles mußte ich, mit Mühe aus meiner Höhle hervorkriechend, ſelbſt beſorgen. Wiederum fehlte es mir
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Neoptolemus antwortete, wie Odyſſeus ihn gelehrt
hatte; da brach Philoktetes in ein Freudengeſchrei aus:
„O theuer werthe griechiſche Laute, wie nach ſo langer
Zeit tönet ihr in mein Ohr! O Sohn des liebſten Va¬
ters! Geliebtes Scyros! Guter Lykomedes! Und du,
Pflegekind des Alten, was ſprichſt du da? So haben dich
die Danaer denn auch nicht anders behandelt, als mich!
Wiſſe, ich bin Philoktetes, der Sohn des Pöas, derſelbe,
den die Atriden und Odyſſeus einſt, ganz verlaſſen, von
entſetzlicher Krankheit gequält, auf unſrem Zuge nach
Troja, hier ausſetzten. Sorglos ſchlief ich am Strande
der See unter dieſem hohlen Felſendache; da entflohen ſie
treulos, hinterließen mir nur kümmerliche Lumpen, wie
einem Bettler, und die nothdürftigſte Koſt, wie ſie einſt
ihnen aufgeſpart ſeyn möge. Wie meinſt du, liebes Kind,
daß ich aus meinem Schlaf erwacht ſey? mit welchen
Thränen, welchem Angſtgeſchrei, als ich von dem ganzen
Schiffszuge, der mich hieher geführt, keine Seele mehr
erblickte, keinen Arzt, keine Hülfe für mein Uebel; gar
nichts mehr ringsum, außer meinem Jammer, aber dieſen
freilich im Ueberfluß! Seitdem ſind mir Armen Tage
um Tage und Jahre um Jahre verlaufen, und unter die¬
ſem engen Dache bin ich mein einziger Pfleger geweſen.
Mein Bogen hier verſchaffte mir die nöthigſte Nahrung;
aber wie jammervoll mußte ich mich, wenn mir eine
Beute aus den Lüften zufiel, nach der Stelle hinſchleppen,
den kranken Fuß nachziehend. Und ſo oft ich einen Trunk
aus der Quelle ſuchen, ſo oft ich von Winter zu Winter
zur Feuerung meiner Höhle mir Holz im Walde fällen
wollte, das Alles mußte ich, mit Mühe aus meiner Höhle
hervorkriechend, ſelbſt beſorgen. Wiederum fehlte es mir
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/409>, abgerufen am 25.11.2024.
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