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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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"Welcher Dämon blendete dich, Odysseus," rief er voll
Unmuths, "daß du dich mit ihm messen willst? Du stehst
mir wahrhaftig nach, wie ein Hund dem Löwen, oder hast
du schon vergessen, wie gerne du dich dem Zuge der
Griechen gegen Troja entzogen hättest? O wärest du
doch zurückgeblieben! Bist doch du es gewesen, der uns
beredet hat, den ruhmvollen Sohn des Pöas, den Phi¬
loktetes, in seinem schrecklichen Jammer auf Lemnos zu¬
rückzulassen; hast doch du den Tod des Palamedes ver¬
schuldet, obgleich er dich sowohl an Stärke als an Klugheit
übertraf! Und jetzt vergissest du auch alle die Dienste, die
ich den Griechen geleistet; vergissest, daß ich dir selbst das
Leben gerettet, als du, von allen Andern verlassen, dich
allein im Schlachtgetümmel fandest, und vergebens dich
nach der Flucht umsahest. Damals als um Achilles Leiche
sich der Kampf erhob, bin nicht ich es gewesen, der den
Leib samt den Waffen hinwegtrug? Du selbst aber hättest
nicht einmal die Kraft gehabt, die Waffen des Helden
davon zu tragen, geschweige denn ihn selber! Darum
weiche mir, der ich überdieß nicht bloß stärker als du bin,
sondern auch edlern Stammes und mit dem Helden selbst
verwandt, um dessen Waffen wir hier streiten!"

So vereiferte sich Ajax. Odysseus aber erwiederte
mit einem Lächeln des Spottes: "Wozu verlierst du so
viel unnütze Worte, Ajax? Du schiltst mich feige und
kraftlos, und bedenkst nicht, daß nur die Klugheit es ist,
die wahre Stärke verleiht. Diese ist es, welche den
Schiffer die Fahrt durch das empörte Meer lehrt, welche
wilde Thiere, Panther und Löwen zähmt, welche die Stiere
in des Menschen Dienst zwingt. Und deßwegen ist in der
Noth wie im Rathe ein Mann mit Verstand mehr werth,

„Welcher Dämon blendete dich, Odyſſeus,“ rief er voll
Unmuths, „daß du dich mit ihm meſſen willſt? Du ſtehſt
mir wahrhaftig nach, wie ein Hund dem Löwen, oder haſt
du ſchon vergeſſen, wie gerne du dich dem Zuge der
Griechen gegen Troja entzogen hätteſt? O wäreſt du
doch zurückgeblieben! Biſt doch du es geweſen, der uns
beredet hat, den ruhmvollen Sohn des Pöas, den Phi¬
loktetes, in ſeinem ſchrecklichen Jammer auf Lemnos zu¬
rückzulaſſen; haſt doch du den Tod des Palamedes ver¬
ſchuldet, obgleich er dich ſowohl an Stärke als an Klugheit
übertraf! Und jetzt vergiſſeſt du auch alle die Dienſte, die
ich den Griechen geleiſtet; vergiſſeſt, daß ich dir ſelbſt das
Leben gerettet, als du, von allen Andern verlaſſen, dich
allein im Schlachtgetümmel fandeſt, und vergebens dich
nach der Flucht umſaheſt. Damals als um Achilles Leiche
ſich der Kampf erhob, bin nicht ich es geweſen, der den
Leib ſamt den Waffen hinwegtrug? Du ſelbſt aber hätteſt
nicht einmal die Kraft gehabt, die Waffen des Helden
davon zu tragen, geſchweige denn ihn ſelber! Darum
weiche mir, der ich überdieß nicht bloß ſtärker als du bin,
ſondern auch edlern Stammes und mit dem Helden ſelbſt
verwandt, um deſſen Waffen wir hier ſtreiten!“

So vereiferte ſich Ajax. Odyſſeus aber erwiederte
mit einem Lächeln des Spottes: „Wozu verlierſt du ſo
viel unnütze Worte, Ajax? Du ſchiltſt mich feige und
kraftlos, und bedenkſt nicht, daß nur die Klugheit es iſt,
die wahre Stärke verleiht. Dieſe iſt es, welche den
Schiffer die Fahrt durch das empörte Meer lehrt, welche
wilde Thiere, Panther und Löwen zähmt, welche die Stiere
in des Menſchen Dienſt zwingt. Und deßwegen iſt in der
Noth wie im Rathe ein Mann mit Verſtand mehr werth,

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[361/0383] „Welcher Dämon blendete dich, Odyſſeus,“ rief er voll Unmuths, „daß du dich mit ihm meſſen willſt? Du ſtehſt mir wahrhaftig nach, wie ein Hund dem Löwen, oder haſt du ſchon vergeſſen, wie gerne du dich dem Zuge der Griechen gegen Troja entzogen hätteſt? O wäreſt du doch zurückgeblieben! Biſt doch du es geweſen, der uns beredet hat, den ruhmvollen Sohn des Pöas, den Phi¬ loktetes, in ſeinem ſchrecklichen Jammer auf Lemnos zu¬ rückzulaſſen; haſt doch du den Tod des Palamedes ver¬ ſchuldet, obgleich er dich ſowohl an Stärke als an Klugheit übertraf! Und jetzt vergiſſeſt du auch alle die Dienſte, die ich den Griechen geleiſtet; vergiſſeſt, daß ich dir ſelbſt das Leben gerettet, als du, von allen Andern verlaſſen, dich allein im Schlachtgetümmel fandeſt, und vergebens dich nach der Flucht umſaheſt. Damals als um Achilles Leiche ſich der Kampf erhob, bin nicht ich es geweſen, der den Leib ſamt den Waffen hinwegtrug? Du ſelbſt aber hätteſt nicht einmal die Kraft gehabt, die Waffen des Helden davon zu tragen, geſchweige denn ihn ſelber! Darum weiche mir, der ich überdieß nicht bloß ſtärker als du bin, ſondern auch edlern Stammes und mit dem Helden ſelbſt verwandt, um deſſen Waffen wir hier ſtreiten!“ So vereiferte ſich Ajax. Odyſſeus aber erwiederte mit einem Lächeln des Spottes: „Wozu verlierſt du ſo viel unnütze Worte, Ajax? Du ſchiltſt mich feige und kraftlos, und bedenkſt nicht, daß nur die Klugheit es iſt, die wahre Stärke verleiht. Dieſe iſt es, welche den Schiffer die Fahrt durch das empörte Meer lehrt, welche wilde Thiere, Panther und Löwen zähmt, welche die Stiere in des Menſchen Dienſt zwingt. Und deßwegen iſt in der Noth wie im Rathe ein Mann mit Verſtand mehr werth,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/383>, abgerufen am 22.11.2024.