Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

dunkeln Trauerschleier bedeckt, und sprach tiefbetrübt zu
den Danaern: "Die Siegespreise zur Leichenfeier meines
Sohnes sind nun alle gewonnen. Jetzt aber trete der
beste der Griechen auf, der den Leichnam rettete, daß ich
ihm die herrlichen Waffen meines Sohnes verleihe, lauter
Göttergeschenke, an denen die Unsterblichen selbst ihre
Freude hatten."

Da sprangen in plötzlichem Wortwechsel zwei Helden
zugleich auf, Odysseus, der große Sohn des Laertes, und
der riesige Ajax, Telamons Sohn. Strahlend, wie der
Abendstern, schwang sich der letztere den Waffen an die
Seite, und rief Idomeneus, Nestor und Agamemnon zu
Zeugen seiner Thaten auf. Aber an dieselben Helden
wandte sich auch Odysseus, denn es waren die Verständig¬
sten und Untadeligsten des ganzen Heeres. Nestor nahm
die beiden andern Helden bei Seite, und sprach mit be¬
kümmerter Miene: "Ein großes Unglück steht uns Allen
bevor, dadurch, daß die beiden besten Helden des Heeres um
unsers Erschlagenen Waffenschmuck buhlen! Welcher auch
von beiden zurückgesetzt werden mag, der wird beleidigt
und grimmig sich vom Kampfe zurückziehen, und wir Alle
werden seine Unthätigkeit schmerzlich zu empfinden haben.
Deßwegen folget mir, dem erfahrenen Greise. Wir haben
ja hier im Lager viele, erst vor Kurzem gefangene Tro¬
janer: lassen wir diese den Streit zwischen Ajax und
Odysseus entscheiden; sie sind unpartheiisch und werden
von beiden Helden keinen begünstigen!" Einträchtigen
Sinnes mit Nestor begaben sich nun auch die beiden an¬
dern Schiedsrichter ihres Amtes, und nun setzten sich die
edelsten der Trojaner, obwohl sie nur Kriegsgefangene
waren, zu Gerichte, und zuerst trat Ajax vor ihnen auf.

dunkeln Trauerſchleier bedeckt, und ſprach tiefbetrübt zu
den Danaern: „Die Siegespreiſe zur Leichenfeier meines
Sohnes ſind nun alle gewonnen. Jetzt aber trete der
beſte der Griechen auf, der den Leichnam rettete, daß ich
ihm die herrlichen Waffen meines Sohnes verleihe, lauter
Göttergeſchenke, an denen die Unſterblichen ſelbſt ihre
Freude hatten.“

Da ſprangen in plötzlichem Wortwechſel zwei Helden
zugleich auf, Odyſſeus, der große Sohn des Laertes, und
der rieſige Ajax, Telamons Sohn. Strahlend, wie der
Abendſtern, ſchwang ſich der letztere den Waffen an die
Seite, und rief Idomeneus, Neſtor und Agamemnon zu
Zeugen ſeiner Thaten auf. Aber an dieſelben Helden
wandte ſich auch Odyſſeus, denn es waren die Verſtändig¬
ſten und Untadeligſten des ganzen Heeres. Neſtor nahm
die beiden andern Helden bei Seite, und ſprach mit be¬
kümmerter Miene: „Ein großes Unglück ſteht uns Allen
bevor, dadurch, daß die beiden beſten Helden des Heeres um
unſers Erſchlagenen Waffenſchmuck buhlen! Welcher auch
von beiden zurückgeſetzt werden mag, der wird beleidigt
und grimmig ſich vom Kampfe zurückziehen, und wir Alle
werden ſeine Unthätigkeit ſchmerzlich zu empfinden haben.
Deßwegen folget mir, dem erfahrenen Greiſe. Wir haben
ja hier im Lager viele, erſt vor Kurzem gefangene Tro¬
janer: laſſen wir dieſe den Streit zwiſchen Ajax und
Odyſſeus entſcheiden; ſie ſind unpartheiiſch und werden
von beiden Helden keinen begünſtigen!“ Einträchtigen
Sinnes mit Neſtor begaben ſich nun auch die beiden an¬
dern Schiedsrichter ihres Amtes, und nun ſetzten ſich die
edelſten der Trojaner, obwohl ſie nur Kriegsgefangene
waren, zu Gerichte, und zuerſt trat Ajax vor ihnen auf.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0382" n="360"/>
dunkeln Trauer&#x017F;chleier bedeckt, und &#x017F;prach tiefbetrübt zu<lb/>
den Danaern: &#x201E;Die Siegesprei&#x017F;e zur Leichenfeier meines<lb/>
Sohnes &#x017F;ind nun alle gewonnen. Jetzt aber trete der<lb/>
be&#x017F;te der Griechen auf, der den Leichnam rettete, daß ich<lb/>
ihm die herrlichen Waffen meines Sohnes verleihe, lauter<lb/>
Götterge&#x017F;chenke, an denen die Un&#x017F;terblichen &#x017F;elb&#x017F;t ihre<lb/>
Freude hatten.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Da &#x017F;prangen in plötzlichem Wortwech&#x017F;el zwei Helden<lb/>
zugleich auf, Ody&#x017F;&#x017F;eus, der große Sohn des Laertes, und<lb/>
der rie&#x017F;ige Ajax, Telamons Sohn. Strahlend, wie der<lb/>
Abend&#x017F;tern, &#x017F;chwang &#x017F;ich der letztere den Waffen an die<lb/>
Seite, und rief Idomeneus, Ne&#x017F;tor und Agamemnon zu<lb/>
Zeugen &#x017F;einer Thaten auf. Aber an die&#x017F;elben Helden<lb/>
wandte &#x017F;ich auch Ody&#x017F;&#x017F;eus, denn es waren die Ver&#x017F;tändig¬<lb/>
&#x017F;ten und Untadelig&#x017F;ten des ganzen Heeres. Ne&#x017F;tor nahm<lb/>
die beiden andern Helden bei Seite, und &#x017F;prach mit be¬<lb/>
kümmerter Miene: &#x201E;Ein großes Unglück &#x017F;teht uns Allen<lb/>
bevor, dadurch, daß die beiden be&#x017F;ten Helden des Heeres um<lb/>
un&#x017F;ers Er&#x017F;chlagenen Waffen&#x017F;chmuck buhlen! Welcher auch<lb/>
von beiden zurückge&#x017F;etzt werden mag, der wird beleidigt<lb/>
und grimmig &#x017F;ich vom Kampfe zurückziehen, und wir Alle<lb/>
werden &#x017F;eine Unthätigkeit &#x017F;chmerzlich zu empfinden haben.<lb/>
Deßwegen folget mir, dem erfahrenen Grei&#x017F;e. Wir haben<lb/>
ja hier im Lager viele, er&#x017F;t vor Kurzem gefangene Tro¬<lb/>
janer: la&#x017F;&#x017F;en wir die&#x017F;e den Streit zwi&#x017F;chen Ajax und<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;eus ent&#x017F;cheiden; &#x017F;ie &#x017F;ind unpartheii&#x017F;ch und werden<lb/>
von beiden Helden keinen begün&#x017F;tigen!&#x201C; Einträchtigen<lb/>
Sinnes mit Ne&#x017F;tor begaben &#x017F;ich nun auch die beiden an¬<lb/>
dern Schiedsrichter ihres Amtes, und nun &#x017F;etzten &#x017F;ich die<lb/>
edel&#x017F;ten der Trojaner, obwohl &#x017F;ie nur Kriegsgefangene<lb/>
waren, zu Gerichte, und zuer&#x017F;t trat Ajax vor ihnen auf.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[360/0382] dunkeln Trauerſchleier bedeckt, und ſprach tiefbetrübt zu den Danaern: „Die Siegespreiſe zur Leichenfeier meines Sohnes ſind nun alle gewonnen. Jetzt aber trete der beſte der Griechen auf, der den Leichnam rettete, daß ich ihm die herrlichen Waffen meines Sohnes verleihe, lauter Göttergeſchenke, an denen die Unſterblichen ſelbſt ihre Freude hatten.“ Da ſprangen in plötzlichem Wortwechſel zwei Helden zugleich auf, Odyſſeus, der große Sohn des Laertes, und der rieſige Ajax, Telamons Sohn. Strahlend, wie der Abendſtern, ſchwang ſich der letztere den Waffen an die Seite, und rief Idomeneus, Neſtor und Agamemnon zu Zeugen ſeiner Thaten auf. Aber an dieſelben Helden wandte ſich auch Odyſſeus, denn es waren die Verſtändig¬ ſten und Untadeligſten des ganzen Heeres. Neſtor nahm die beiden andern Helden bei Seite, und ſprach mit be¬ kümmerter Miene: „Ein großes Unglück ſteht uns Allen bevor, dadurch, daß die beiden beſten Helden des Heeres um unſers Erſchlagenen Waffenſchmuck buhlen! Welcher auch von beiden zurückgeſetzt werden mag, der wird beleidigt und grimmig ſich vom Kampfe zurückziehen, und wir Alle werden ſeine Unthätigkeit ſchmerzlich zu empfinden haben. Deßwegen folget mir, dem erfahrenen Greiſe. Wir haben ja hier im Lager viele, erſt vor Kurzem gefangene Tro¬ janer: laſſen wir dieſe den Streit zwiſchen Ajax und Odyſſeus entſcheiden; ſie ſind unpartheiiſch und werden von beiden Helden keinen begünſtigen!“ Einträchtigen Sinnes mit Neſtor begaben ſich nun auch die beiden an¬ dern Schiedsrichter ihres Amtes, und nun ſetzten ſich die edelſten der Trojaner, obwohl ſie nur Kriegsgefangene waren, zu Gerichte, und zuerſt trat Ajax vor ihnen auf.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/382
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/382>, abgerufen am 22.11.2024.