gedrungen. Beide lagen fern am Grabe des Patroklus, und gedachten hier ihres erschlagenen Freundes; so war es vom Geschicke verordnet, welches der Amazonenfürstin ein paar Stunden der Aernte gönnen wollte, und sie mit Ruhm bekränzt zum Tode trieb. Auf den Mauern der Stadt standen die trojanischen Frauen und bewunderten jubelnd die Heldenthaten ihrer Mitschwester. Eine von ihnen, Hippodamia, die Gattin des tapfern Trojaners Tisiphonus, fühlte sich plötzlich von Kampflust ergriffen: "Freundinnen, sprach sie, warum kämpfen nicht auch wir, unsern Männern gleich, fürs Vaterland, für uns und für unsere Kinder? Stehen wir doch nicht so ferne von dem kräftigen Geschlecht unserer Jünglinge: dieselbe Kraft wie ihnen ward auch uns verliehen: unsere Augen spähen nicht weniger scharf; unsere Kniee wanken so wenig, wie die ihrigen; Licht, Luft und Nahrung gehört uns wie ihnen; warum sollte nicht auch die Feldschlacht uns verliehen seyn? Seht ihr denn nicht dort das Weib, das hoch hervorragt vor allen Männern? Und doch ist es nicht einmal von unserem Stamme! Es kämpft für einen fremden König, für eine Stadt, die nicht seine Heimath ist, und thut es unbekümmert um die Männer, faßt sich einen Muth im Herzen, und sinnt auf Unheil gegen die Feinde. Wir aber hätten für unser eigenes Glück zu fechten und eigenes Unglück hätten wir zu rächen. Wo ist eine von uns, die in diesem unseligen Kriege nicht ein Kind, oder einen Gatten, oder einen Vater verloren hätte, oder um Brü¬ der oder andre nahe Verwandte trauerte? Und wenn unsre Männer unterliegen, was steht uns allen Besseres bevor, als die Knechtschaft? Darum lasset uns den Kampf nicht länger aufschieben; lieber wollen wir sterben, denn
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gedrungen. Beide lagen fern am Grabe des Patroklus, und gedachten hier ihres erſchlagenen Freundes; ſo war es vom Geſchicke verordnet, welches der Amazonenfürſtin ein paar Stunden der Aernte gönnen wollte, und ſie mit Ruhm bekränzt zum Tode trieb. Auf den Mauern der Stadt ſtanden die trojaniſchen Frauen und bewunderten jubelnd die Heldenthaten ihrer Mitſchweſter. Eine von ihnen, Hippodamia, die Gattin des tapfern Trojaners Tiſiphonus, fühlte ſich plötzlich von Kampfluſt ergriffen: „Freundinnen, ſprach ſie, warum kämpfen nicht auch wir, unſern Männern gleich, fürs Vaterland, für uns und für unſere Kinder? Stehen wir doch nicht ſo ferne von dem kräftigen Geſchlecht unſerer Jünglinge: dieſelbe Kraft wie ihnen ward auch uns verliehen: unſere Augen ſpähen nicht weniger ſcharf; unſere Kniee wanken ſo wenig, wie die ihrigen; Licht, Luft und Nahrung gehört uns wie ihnen; warum ſollte nicht auch die Feldſchlacht uns verliehen ſeyn? Seht ihr denn nicht dort das Weib, das hoch hervorragt vor allen Männern? Und doch iſt es nicht einmal von unſerem Stamme! Es kämpft für einen fremden König, für eine Stadt, die nicht ſeine Heimath iſt, und thut es unbekümmert um die Männer, faßt ſich einen Muth im Herzen, und ſinnt auf Unheil gegen die Feinde. Wir aber hätten für unſer eigenes Glück zu fechten und eigenes Unglück hätten wir zu rächen. Wo iſt eine von uns, die in dieſem unſeligen Kriege nicht ein Kind, oder einen Gatten, oder einen Vater verloren hätte, oder um Brü¬ der oder andre nahe Verwandte trauerte? Und wenn unſre Männer unterliegen, was ſteht uns allen Beſſeres bevor, als die Knechtſchaft? Darum laſſet uns den Kampf nicht länger aufſchieben; lieber wollen wir ſterben, denn
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gedrungen. Beide lagen fern am Grabe des Patroklus,
und gedachten hier ihres erſchlagenen Freundes; ſo war
es vom Geſchicke verordnet, welches der Amazonenfürſtin
ein paar Stunden der Aernte gönnen wollte, und ſie mit
Ruhm bekränzt zum Tode trieb. Auf den Mauern der
Stadt ſtanden die trojaniſchen Frauen und bewunderten
jubelnd die Heldenthaten ihrer Mitſchweſter. Eine von
ihnen, Hippodamia, die Gattin des tapfern Trojaners
Tiſiphonus, fühlte ſich plötzlich von Kampfluſt ergriffen:
„Freundinnen, ſprach ſie, warum kämpfen nicht auch wir,
unſern Männern gleich, fürs Vaterland, für uns und für
unſere Kinder? Stehen wir doch nicht ſo ferne von dem
kräftigen Geſchlecht unſerer Jünglinge: dieſelbe Kraft wie
ihnen ward auch uns verliehen: unſere Augen ſpähen nicht
weniger ſcharf; unſere Kniee wanken ſo wenig, wie die
ihrigen; Licht, Luft und Nahrung gehört uns wie ihnen;
warum ſollte nicht auch die Feldſchlacht uns verliehen ſeyn?
Seht ihr denn nicht dort das Weib, das hoch hervorragt
vor allen Männern? Und doch iſt es nicht einmal von
unſerem Stamme! Es kämpft für einen fremden König,
für eine Stadt, die nicht ſeine Heimath iſt, und thut es
unbekümmert um die Männer, faßt ſich einen Muth im
Herzen, und ſinnt auf Unheil gegen die Feinde. Wir
aber hätten für unſer eigenes Glück zu fechten und eigenes
Unglück hätten wir zu rächen. Wo iſt eine von uns, die
in dieſem unſeligen Kriege nicht ein Kind, oder einen
Gatten, oder einen Vater verloren hätte, oder um Brü¬
der oder andre nahe Verwandte trauerte? Und wenn
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/345>, abgerufen am 25.11.2024.
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