Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Tochter, und bewirthete sie aufs Köstlichste. Die auser¬
lesensten Geschenke wurden für sie auf sein Geheiß herbei¬
gebracht, und noch mehrere versprach er ihr für die Zu¬
kunft, wenn es ihr glücken sollte, die Trojaner der Gefahr
zu entreißen. Die Amazonenkönigin aber erhub sich von
dem Ehrenstuhl, auf dem sie Platz genommen, und ver¬
maß sich eines Schwures, der noch keinem Sterblichen in
den Sinn gekommen war: sie verhieß dem Könige den
Tod des göttergleichen Achilles: ihn und alle Schaaren
der Argiver wollte sie vertilgen, und ihr Feuer sollte alle
feindlichen Schiffe fressen! So schwur die Thörin, welche
den lanzenschwingenden Helden und seinen furchtbaren
Arm noch nicht kannte. Als Andromache, Hektors trauernde
Wittwe, dieses Versprechen mit anhörte, da dachte sie bei
sich selber: "O du Arme, du weissest nicht, was du ge¬
sprochen hast, und wessen du dich im Stolze vermissest!
Wie sollte dir die Kraft zu Gebote stehen, die zum Kampfe
mit dem männermordenden Helden erforderlich ist? Bist
du von Sinnen, Verlorene, und siehest das Ziel des To¬
des nicht, vor dem du jetzt schon stehest? Schauten doch
auf meinen Gatten Hektor, wie auf einen Gott, alle
Trojaner hin, und doch hat der Speer des Peliden seinen
Hals durchbohrt! O möchte mich die Erde verschlingen!"

So dachte Andromache bei sich. Indessen war der
Tag zu Ende gegangen, und nachdem die Heldinnen sich
vom Zuge erholt und mit Speise und Trank gelabt hatten,
wurde der Fürstin und ihren Begleiterinnen von den Dienst¬
mägden des Pallastes ein behagliches Lager bereitet, auf
welchem Penthesilea bald in einen tiefen Schlummer sank.
Da nahete ihr auf Minerva's Befehl ein verderbliches
Traumbild. Ihr eigener Vater erschien ihr im Schlafe,

Tochter, und bewirthete ſie aufs Köſtlichſte. Die auser¬
leſenſten Geſchenke wurden für ſie auf ſein Geheiß herbei¬
gebracht, und noch mehrere verſprach er ihr für die Zu¬
kunft, wenn es ihr glücken ſollte, die Trojaner der Gefahr
zu entreißen. Die Amazonenkönigin aber erhub ſich von
dem Ehrenſtuhl, auf dem ſie Platz genommen, und ver¬
maß ſich eines Schwures, der noch keinem Sterblichen in
den Sinn gekommen war: ſie verhieß dem Könige den
Tod des göttergleichen Achilles: ihn und alle Schaaren
der Argiver wollte ſie vertilgen, und ihr Feuer ſollte alle
feindlichen Schiffe freſſen! So ſchwur die Thörin, welche
den lanzenſchwingenden Helden und ſeinen furchtbaren
Arm noch nicht kannte. Als Andromache, Hektors trauernde
Wittwe, dieſes Verſprechen mit anhörte, da dachte ſie bei
ſich ſelber: „O du Arme, du weiſſeſt nicht, was du ge¬
ſprochen haſt, und weſſen du dich im Stolze vermiſſeſt!
Wie ſollte dir die Kraft zu Gebote ſtehen, die zum Kampfe
mit dem männermordenden Helden erforderlich iſt? Biſt
du von Sinnen, Verlorene, und ſieheſt das Ziel des To¬
des nicht, vor dem du jetzt ſchon ſteheſt? Schauten doch
auf meinen Gatten Hektor, wie auf einen Gott, alle
Trojaner hin, und doch hat der Speer des Peliden ſeinen
Hals durchbohrt! O möchte mich die Erde verſchlingen!“

So dachte Andromache bei ſich. Indeſſen war der
Tag zu Ende gegangen, und nachdem die Heldinnen ſich
vom Zuge erholt und mit Speiſe und Trank gelabt hatten,
wurde der Fürſtin und ihren Begleiterinnen von den Dienſt¬
mägden des Pallaſtes ein behagliches Lager bereitet, auf
welchem Pentheſiléa bald in einen tiefen Schlummer ſank.
Da nahete ihr auf Minerva's Befehl ein verderbliches
Traumbild. Ihr eigener Vater erſchien ihr im Schlafe,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0340" n="318"/>
Tochter, und bewirthete &#x017F;ie aufs Kö&#x017F;tlich&#x017F;te. Die auser¬<lb/>
le&#x017F;en&#x017F;ten Ge&#x017F;chenke wurden für &#x017F;ie auf &#x017F;ein Geheiß herbei¬<lb/>
gebracht, und noch mehrere ver&#x017F;prach er ihr für die Zu¬<lb/>
kunft, wenn es ihr glücken &#x017F;ollte, die Trojaner der Gefahr<lb/>
zu entreißen. Die Amazonenkönigin aber erhub &#x017F;ich von<lb/>
dem Ehren&#x017F;tuhl, auf dem &#x017F;ie Platz genommen, und ver¬<lb/>
maß &#x017F;ich eines Schwures, der noch keinem Sterblichen in<lb/>
den Sinn gekommen war: &#x017F;ie verhieß dem Könige den<lb/>
Tod des göttergleichen Achilles: ihn und alle Schaaren<lb/>
der Argiver wollte &#x017F;ie vertilgen, und ihr Feuer &#x017F;ollte alle<lb/>
feindlichen Schiffe fre&#x017F;&#x017F;en! So &#x017F;chwur die Thörin, welche<lb/>
den lanzen&#x017F;chwingenden Helden und &#x017F;einen furchtbaren<lb/>
Arm noch nicht kannte. Als Andromache, Hektors trauernde<lb/>
Wittwe, die&#x017F;es Ver&#x017F;prechen mit anhörte, da dachte &#x017F;ie bei<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elber: &#x201E;O du Arme, du wei&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t nicht, was du ge¬<lb/>
&#x017F;prochen ha&#x017F;t, und we&#x017F;&#x017F;en du dich im Stolze vermi&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t!<lb/>
Wie &#x017F;ollte dir die Kraft zu Gebote &#x017F;tehen, die zum Kampfe<lb/>
mit dem männermordenden Helden erforderlich i&#x017F;t? Bi&#x017F;t<lb/>
du von Sinnen, Verlorene, und &#x017F;iehe&#x017F;t das Ziel des To¬<lb/>
des nicht, vor dem du jetzt &#x017F;chon &#x017F;tehe&#x017F;t? Schauten doch<lb/>
auf meinen Gatten Hektor, wie auf einen Gott, alle<lb/>
Trojaner hin, und doch hat der Speer des Peliden &#x017F;einen<lb/>
Hals durchbohrt! O möchte mich die Erde ver&#x017F;chlingen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>So dachte Andromache bei &#x017F;ich. Inde&#x017F;&#x017F;en war der<lb/>
Tag zu Ende gegangen, und nachdem die Heldinnen &#x017F;ich<lb/>
vom Zuge erholt und mit Spei&#x017F;e und Trank gelabt hatten,<lb/>
wurde der Für&#x017F;tin und ihren Begleiterinnen von den Dien&#x017F;<lb/>
mägden des Palla&#x017F;tes ein behagliches Lager bereitet, auf<lb/>
welchem Penthe&#x017F;il<hi rendition="#aq">é</hi>a bald in einen tiefen Schlummer &#x017F;ank.<lb/>
Da nahete ihr auf Minerva's Befehl ein verderbliches<lb/>
Traumbild. Ihr eigener Vater er&#x017F;chien ihr im Schlafe,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0340] Tochter, und bewirthete ſie aufs Köſtlichſte. Die auser¬ leſenſten Geſchenke wurden für ſie auf ſein Geheiß herbei¬ gebracht, und noch mehrere verſprach er ihr für die Zu¬ kunft, wenn es ihr glücken ſollte, die Trojaner der Gefahr zu entreißen. Die Amazonenkönigin aber erhub ſich von dem Ehrenſtuhl, auf dem ſie Platz genommen, und ver¬ maß ſich eines Schwures, der noch keinem Sterblichen in den Sinn gekommen war: ſie verhieß dem Könige den Tod des göttergleichen Achilles: ihn und alle Schaaren der Argiver wollte ſie vertilgen, und ihr Feuer ſollte alle feindlichen Schiffe freſſen! So ſchwur die Thörin, welche den lanzenſchwingenden Helden und ſeinen furchtbaren Arm noch nicht kannte. Als Andromache, Hektors trauernde Wittwe, dieſes Verſprechen mit anhörte, da dachte ſie bei ſich ſelber: „O du Arme, du weiſſeſt nicht, was du ge¬ ſprochen haſt, und weſſen du dich im Stolze vermiſſeſt! Wie ſollte dir die Kraft zu Gebote ſtehen, die zum Kampfe mit dem männermordenden Helden erforderlich iſt? Biſt du von Sinnen, Verlorene, und ſieheſt das Ziel des To¬ des nicht, vor dem du jetzt ſchon ſteheſt? Schauten doch auf meinen Gatten Hektor, wie auf einen Gott, alle Trojaner hin, und doch hat der Speer des Peliden ſeinen Hals durchbohrt! O möchte mich die Erde verſchlingen!“ So dachte Andromache bei ſich. Indeſſen war der Tag zu Ende gegangen, und nachdem die Heldinnen ſich vom Zuge erholt und mit Speiſe und Trank gelabt hatten, wurde der Fürſtin und ihren Begleiterinnen von den Dienſt¬ mägden des Pallaſtes ein behagliches Lager bereitet, auf welchem Pentheſiléa bald in einen tiefen Schlummer ſank. Da nahete ihr auf Minerva's Befehl ein verderbliches Traumbild. Ihr eigener Vater erſchien ihr im Schlafe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/340
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/340>, abgerufen am 25.11.2024.