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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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begleiten hat. Dieser faßte die Hand des Königes, ohne
daß der ihn erkannte, und sprach: "Vater, wohin lenkst
du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche schlafen, deine
Rosse und Maulthiere? Fürchtest du dich denn gar nicht
vor den erbitterten Achivern? Wenn dich einer davon so
viel köstliche Habe durchs Dunkel führen sähe, wie würde
dir wohl zu Muthe werden? Sorge jedoch nicht, daß
Ich dir etwas zu Leide thue; vielmehr möchte ich dich auch
vor Andern beschirmen; gleichst du doch meinem lieben
Vater an Gestalt! Aber sage mir, führst du so viel aus¬
erlesene Güter, flüchtend, nach einem fremden Lande?
oder verlasset ihr Alle bereits Troja, nachdem ihr den
tapfersten Mann verloren habt, der keinem Griechen an
Muthe wich?" Priamus schöpfte leichter Athem und ant¬
wortete: "Wahrlich, jetzt sehe ich, daß die Hand eines
Gottes mich beschirmt, da mir ein so liebreicher und ver¬
ständiger Gefährte auf meinem Wege begegnet, der so
schön vom Tode meines Sohnes redet. Aber wer bist du,
mein Guter, und welcher Eltern Kind?" "Mein Vater
heißt Polyktor," antwortete Hermes, "ich bin von sieben
Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genosse des
Achilles; daher ich denn oft mit meinen Augen deinen
Sohn kämpfen und die Argiver zu den Schiffen treiben
sah, während wir bei unserm zürnenden Herrn standen,
und ihn aus der Ferne bewunderten." "Wenn du ein
Genosse des schrecklichen Peliden bist," fragte Priamus jetzt
voll Ungeduld, "o so verkündige mir, ob mein Sohn noch
bei den Schiffen ist, oder ob Achilles ihn schon, in Stücke
zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat?" "Nein," ant¬
wortete Hermes, "er liegt noch im Zelte des Achilles,
von Moder unberührt, obgleich schon der zwölfte Morgen

Schwab, das klass. Alterthum. II. 20

begleiten hat. Dieſer faßte die Hand des Königes, ohne
daß der ihn erkannte, und ſprach: „Vater, wohin lenkſt
du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlafen, deine
Roſſe und Maulthiere? Fürchteſt du dich denn gar nicht
vor den erbitterten Achivern? Wenn dich einer davon ſo
viel köſtliche Habe durchs Dunkel führen ſähe, wie würde
dir wohl zu Muthe werden? Sorge jedoch nicht, daß
Ich dir etwas zu Leide thue; vielmehr möchte ich dich auch
vor Andern beſchirmen; gleichſt du doch meinem lieben
Vater an Geſtalt! Aber ſage mir, führſt du ſo viel aus¬
erleſene Güter, flüchtend, nach einem fremden Lande?
oder verlaſſet ihr Alle bereits Troja, nachdem ihr den
tapferſten Mann verloren habt, der keinem Griechen an
Muthe wich?“ Priamus ſchöpfte leichter Athem und ant¬
wortete: „Wahrlich, jetzt ſehe ich, daß die Hand eines
Gottes mich beſchirmt, da mir ein ſo liebreicher und ver¬
ſtändiger Gefährte auf meinem Wege begegnet, der ſo
ſchön vom Tode meines Sohnes redet. Aber wer biſt du,
mein Guter, und welcher Eltern Kind?“ „Mein Vater
heißt Polyktor,“ antwortete Hermes, „ich bin von ſieben
Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genoſſe des
Achilles; daher ich denn oft mit meinen Augen deinen
Sohn kämpfen und die Argiver zu den Schiffen treiben
ſah, während wir bei unſerm zürnenden Herrn ſtanden,
und ihn aus der Ferne bewunderten.“ „Wenn du ein
Genoſſe des ſchrecklichen Peliden biſt,“ fragte Priamus jetzt
voll Ungeduld, „o ſo verkündige mir, ob mein Sohn noch
bei den Schiffen iſt, oder ob Achilles ihn ſchon, in Stücke
zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat?“ „Nein,“ ant¬
wortete Hermes, „er liegt noch im Zelte des Achilles,
von Moder unberührt, obgleich ſchon der zwölfte Morgen

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[305/0327] begleiten hat. Dieſer faßte die Hand des Königes, ohne daß der ihn erkannte, und ſprach: „Vater, wohin lenkſt du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlafen, deine Roſſe und Maulthiere? Fürchteſt du dich denn gar nicht vor den erbitterten Achivern? Wenn dich einer davon ſo viel köſtliche Habe durchs Dunkel führen ſähe, wie würde dir wohl zu Muthe werden? Sorge jedoch nicht, daß Ich dir etwas zu Leide thue; vielmehr möchte ich dich auch vor Andern beſchirmen; gleichſt du doch meinem lieben Vater an Geſtalt! Aber ſage mir, führſt du ſo viel aus¬ erleſene Güter, flüchtend, nach einem fremden Lande? oder verlaſſet ihr Alle bereits Troja, nachdem ihr den tapferſten Mann verloren habt, der keinem Griechen an Muthe wich?“ Priamus ſchöpfte leichter Athem und ant¬ wortete: „Wahrlich, jetzt ſehe ich, daß die Hand eines Gottes mich beſchirmt, da mir ein ſo liebreicher und ver¬ ſtändiger Gefährte auf meinem Wege begegnet, der ſo ſchön vom Tode meines Sohnes redet. Aber wer biſt du, mein Guter, und welcher Eltern Kind?“ „Mein Vater heißt Polyktor,“ antwortete Hermes, „ich bin von ſieben Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genoſſe des Achilles; daher ich denn oft mit meinen Augen deinen Sohn kämpfen und die Argiver zu den Schiffen treiben ſah, während wir bei unſerm zürnenden Herrn ſtanden, und ihn aus der Ferne bewunderten.“ „Wenn du ein Genoſſe des ſchrecklichen Peliden biſt,“ fragte Priamus jetzt voll Ungeduld, „o ſo verkündige mir, ob mein Sohn noch bei den Schiffen iſt, oder ob Achilles ihn ſchon, in Stücke zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat?“ „Nein,“ ant¬ wortete Hermes, „er liegt noch im Zelte des Achilles, von Moder unberührt, obgleich ſchon der zwölfte Morgen Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 20

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/327>, abgerufen am 25.11.2024.