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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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empfing er den Becher, stellte sich in die Mitte des Ho¬
fes, spendete vom Weine, und betete mit erhobener Stimme
zu Jupiter: "Vater Zeus, Herrscher vom Ida, laß mich
Barmherzigkeit und Gnade vor Peleus Sohne finden!
Gib mir auch ein Zeichen, daß ich getrost zu den Schiffen
der Danaer gehen kann!" Kaum hatte er ausgesprochen,
so stürmte mit ausgebreiteten Fittichen ein schwarzgeflügel¬
ter Adler rechts her über die Stadt. Alle Trojaner sahen
es mit Wonne, und der Greis schwang sich voll Zuver¬
sicht in den Wagensitz. Vor ihm her zogen die Maul¬
thiere den schwer bepackten vierrädrigen Wagen, den der
Herold Idäus lenkte. Hinter diesem trieb der Greis mit
der Geißel sein Rossegespann an; die Seinigen aber folg¬
ten ihm alle wehklagend, als ob es zum Tode ginge.
Als die Wagen draußen vor der Stadt waren und Pria¬
mus und der Herold am Denkmale des alten Königs
Ilius vorbeilenkte, hielten sie mit beiden Wagen ein we¬
nig, um die Rosse und Maulthiere unten am Strome zu
tränken. Der Abend war eingebrochen, und das Gefilde
lag rings in Dämmerung. Da bemerkte Idäus ganz in
der Nähe die Gestalt eines Mannes, und erschrocken sprach
er zu Priamus: "Merk auf, Herr, hier gilts Besonnen¬
heit! Sieh den Mann dort, ich fürchte, er steht auf der
Lauer und sinnt auf unsern Tod. Wir sind unbewaffnet,
dazu Greise; laß uns entweder umkehren und schnell in
die Stadt zurückfliehen, oder seine Knie umfassen und ihn
um Erbarmung flehen." Den Greis durchfuhr ein banger
Schauer und seine Haare sträubten sich. Jetzt näherte sich
die Gestalt; es war aber kein Feind, sondern der Abge¬
sandte Jupiters, Hermes oder Merkur, der Bringer des
Heiles, der auserwählte Sterbliche auf ihren Wegen zu

empfing er den Becher, ſtellte ſich in die Mitte des Ho¬
fes, ſpendete vom Weine, und betete mit erhobener Stimme
zu Jupiter: „Vater Zeus, Herrſcher vom Ida, laß mich
Barmherzigkeit und Gnade vor Peleus Sohne finden!
Gib mir auch ein Zeichen, daß ich getroſt zu den Schiffen
der Danaer gehen kann!“ Kaum hatte er ausgeſprochen,
ſo ſtürmte mit ausgebreiteten Fittichen ein ſchwarzgeflügel¬
ter Adler rechts her über die Stadt. Alle Trojaner ſahen
es mit Wonne, und der Greis ſchwang ſich voll Zuver¬
ſicht in den Wagenſitz. Vor ihm her zogen die Maul¬
thiere den ſchwer bepackten vierrädrigen Wagen, den der
Herold Idäus lenkte. Hinter dieſem trieb der Greis mit
der Geißel ſein Roſſegeſpann an; die Seinigen aber folg¬
ten ihm alle wehklagend, als ob es zum Tode ginge.
Als die Wagen draußen vor der Stadt waren und Pria¬
mus und der Herold am Denkmale des alten Königs
Ilius vorbeilenkte, hielten ſie mit beiden Wagen ein we¬
nig, um die Roſſe und Maulthiere unten am Strome zu
tränken. Der Abend war eingebrochen, und das Gefilde
lag rings in Dämmerung. Da bemerkte Idäus ganz in
der Nähe die Geſtalt eines Mannes, und erſchrocken ſprach
er zu Priamus: „Merk auf, Herr, hier gilts Beſonnen¬
heit! Sieh den Mann dort, ich fürchte, er ſteht auf der
Lauer und ſinnt auf unſern Tod. Wir ſind unbewaffnet,
dazu Greiſe; laß uns entweder umkehren und ſchnell in
die Stadt zurückfliehen, oder ſeine Knie umfaſſen und ihn
um Erbarmung flehen.“ Den Greis durchfuhr ein banger
Schauer und ſeine Haare ſträubten ſich. Jetzt näherte ſich
die Geſtalt; es war aber kein Feind, ſondern der Abge¬
ſandte Jupiters, Hermes oder Merkur, der Bringer des
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[304/0326] empfing er den Becher, ſtellte ſich in die Mitte des Ho¬ fes, ſpendete vom Weine, und betete mit erhobener Stimme zu Jupiter: „Vater Zeus, Herrſcher vom Ida, laß mich Barmherzigkeit und Gnade vor Peleus Sohne finden! Gib mir auch ein Zeichen, daß ich getroſt zu den Schiffen der Danaer gehen kann!“ Kaum hatte er ausgeſprochen, ſo ſtürmte mit ausgebreiteten Fittichen ein ſchwarzgeflügel¬ ter Adler rechts her über die Stadt. Alle Trojaner ſahen es mit Wonne, und der Greis ſchwang ſich voll Zuver¬ ſicht in den Wagenſitz. Vor ihm her zogen die Maul¬ thiere den ſchwer bepackten vierrädrigen Wagen, den der Herold Idäus lenkte. Hinter dieſem trieb der Greis mit der Geißel ſein Roſſegeſpann an; die Seinigen aber folg¬ ten ihm alle wehklagend, als ob es zum Tode ginge. Als die Wagen draußen vor der Stadt waren und Pria¬ mus und der Herold am Denkmale des alten Königs Ilius vorbeilenkte, hielten ſie mit beiden Wagen ein we¬ nig, um die Roſſe und Maulthiere unten am Strome zu tränken. Der Abend war eingebrochen, und das Gefilde lag rings in Dämmerung. Da bemerkte Idäus ganz in der Nähe die Geſtalt eines Mannes, und erſchrocken ſprach er zu Priamus: „Merk auf, Herr, hier gilts Beſonnen¬ heit! Sieh den Mann dort, ich fürchte, er ſteht auf der Lauer und ſinnt auf unſern Tod. Wir ſind unbewaffnet, dazu Greiſe; laß uns entweder umkehren und ſchnell in die Stadt zurückfliehen, oder ſeine Knie umfaſſen und ihn um Erbarmung flehen.“ Den Greis durchfuhr ein banger Schauer und ſeine Haare ſträubten ſich. Jetzt näherte ſich die Geſtalt; es war aber kein Feind, ſondern der Abge¬ ſandte Jupiters, Hermes oder Merkur, der Bringer des Heiles, der auserwählte Sterbliche auf ihren Wegen zu

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/326>, abgerufen am 25.11.2024.