ach! ein besinnungsloses Leben! Diese Nacht stand ja leibhaftig vor mir des Patroklus Seele, traurig und kla¬ gend, aber ihm in Allem gleich!" Dadurch erregte Achil¬ les allen Helden die Sehnsucht nach dem Todten auf's Neue.
Als aber die Morgenröthe anbrach, da verließen auf Agamemnons Befehl Männer und Maulthiere die Lager¬ zelte, Meriones an ihrer Spitze: die Thiere voran, die Männer mit Aexten und Seilen ihnen folgend. Da wur¬ den von ihnen auf den Waldhöhen des Ida die hoch¬ stämmigsten Bäume gefällt, das Holz zerschlagen und den Maulthieren aufgeladen. Diese trabten damit hinab nach den Schiffen; auch die Männer schleppten Holzklötze auf den Schultern, und am Meeresstrande wurde alles in Reihen niedergelegt. Nun befahl Achilles seinen Myrmi¬ donen, ihre Erzrüstung anzulegen und den Reisigen, die Wagen anzuspannen. Bald setzte sich der Leichenzug in Bewegung: die Fürsten, Kämpfer und Wagenlenker von den Rossen gezogen, voran; ein dichtes Gewölk von Fu߬ volk zu Tausenden hintendrein. In der Mitte trugen den Patroklus seine Streitgenossen und Freunde, der Leichnam war ganz mit geschorenen Locken bedeckt; sein Haupt hielt Achilles, der Leiche folgend, selbst in den Händen, in tiefe Trauer versenkt.
Als sie den von diesem für das Grab seines Freun¬ des bezeichneten Ort erreicht hatten, setzten sie die Todten¬ bahre nieder und ein ganzer Wald von Bäumen wurde zum Scheiterhaufen herbeigebracht. Der Pelide stellte sich abgewandt vom Gerüste und schor sein braungelocktes Haar, dann schaute er in die dunkle Meeresfluth und sprach: "O Sperchius, thessalischer Heimathfluß, vergebens
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ach! ein beſinnungsloſes Leben! Dieſe Nacht ſtand ja leibhaftig vor mir des Patroklus Seele, traurig und kla¬ gend, aber ihm in Allem gleich!“ Dadurch erregte Achil¬ les allen Helden die Sehnſucht nach dem Todten auf's Neue.
Als aber die Morgenröthe anbrach, da verließen auf Agamemnons Befehl Männer und Maulthiere die Lager¬ zelte, Meriones an ihrer Spitze: die Thiere voran, die Männer mit Aexten und Seilen ihnen folgend. Da wur¬ den von ihnen auf den Waldhöhen des Ida die hoch¬ ſtämmigſten Bäume gefällt, das Holz zerſchlagen und den Maulthieren aufgeladen. Dieſe trabten damit hinab nach den Schiffen; auch die Männer ſchleppten Holzklötze auf den Schultern, und am Meeresſtrande wurde alles in Reihen niedergelegt. Nun befahl Achilles ſeinen Myrmi¬ donen, ihre Erzrüſtung anzulegen und den Reiſigen, die Wagen anzuſpannen. Bald ſetzte ſich der Leichenzug in Bewegung: die Fürſten, Kämpfer und Wagenlenker von den Roſſen gezogen, voran; ein dichtes Gewölk von Fu߬ volk zu Tauſenden hintendrein. In der Mitte trugen den Patroklus ſeine Streitgenoſſen und Freunde, der Leichnam war ganz mit geſchorenen Locken bedeckt; ſein Haupt hielt Achilles, der Leiche folgend, ſelbſt in den Händen, in tiefe Trauer verſenkt.
Als ſie den von dieſem für das Grab ſeines Freun¬ des bezeichneten Ort erreicht hatten, ſetzten ſie die Todten¬ bahre nieder und ein ganzer Wald von Bäumen wurde zum Scheiterhaufen herbeigebracht. Der Pelide ſtellte ſich abgewandt vom Gerüſte und ſchor ſein braungelocktes Haar, dann ſchaute er in die dunkle Meeresfluth und ſprach: „O Sperchius, theſſaliſcher Heimathfluß, vergebens
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ach! ein beſinnungsloſes Leben! Dieſe Nacht ſtand ja
leibhaftig vor mir des Patroklus Seele, traurig und kla¬
gend, aber ihm in Allem gleich!“ Dadurch erregte Achil¬
les allen Helden die Sehnſucht nach dem Todten auf's
Neue.
Als aber die Morgenröthe anbrach, da verließen auf
Agamemnons Befehl Männer und Maulthiere die Lager¬
zelte, Meriones an ihrer Spitze: die Thiere voran, die
Männer mit Aexten und Seilen ihnen folgend. Da wur¬
den von ihnen auf den Waldhöhen des Ida die hoch¬
ſtämmigſten Bäume gefällt, das Holz zerſchlagen und den
Maulthieren aufgeladen. Dieſe trabten damit hinab nach
den Schiffen; auch die Männer ſchleppten Holzklötze auf
den Schultern, und am Meeresſtrande wurde alles in
Reihen niedergelegt. Nun befahl Achilles ſeinen Myrmi¬
donen, ihre Erzrüſtung anzulegen und den Reiſigen, die
Wagen anzuſpannen. Bald ſetzte ſich der Leichenzug in
Bewegung: die Fürſten, Kämpfer und Wagenlenker von
den Roſſen gezogen, voran; ein dichtes Gewölk von Fu߬
volk zu Tauſenden hintendrein. In der Mitte trugen den
Patroklus ſeine Streitgenoſſen und Freunde, der Leichnam
war ganz mit geſchorenen Locken bedeckt; ſein Haupt hielt
Achilles, der Leiche folgend, ſelbſt in den Händen, in tiefe
Trauer verſenkt.
Als ſie den von dieſem für das Grab ſeines Freun¬
des bezeichneten Ort erreicht hatten, ſetzten ſie die Todten¬
bahre nieder und ein ganzer Wald von Bäumen wurde
zum Scheiterhaufen herbeigebracht. Der Pelide ſtellte ſich
abgewandt vom Gerüſte und ſchor ſein braungelocktes
Haar, dann ſchaute er in die dunkle Meeresfluth und
ſprach: „O Sperchius, theſſaliſcher Heimathfluß, vergebens
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/313>, abgerufen am 22.11.2024.
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