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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Fürsten ließen ihn gewähren, setzten sich ans Mahl und
schmausten. Dann ging ein jeder zur Nachtruhe. Der
Sohn des Peleus aber, weil die Todten in seinem Zelte
waren, legte sich, von seinen Myrmidonen umringt, am
Meergestade nieder, wo der kiesige Strand von den Wel¬
len reingespült war.

Lange seufzte er hier noch auf dem harten Lager um
den erschlagenen Freund. Als ihn aber endlich der Schlum¬
mer umfangen hatte, da kam die Seele des jammervollen
Patroklus im Traumbilde zu ihm, an Größe, Gestalt,
Stimme und Augen jenem ganz ähnlich, den Leib einge¬
hüllt in Gewande. So trat der Schatten zu seinen Häup¬
ten und sprach: "Schläfst du, meiner so ganz vergessen,
Achilles? Des Lebenden zwar hast du immerdar gedacht;
aber nicht also des Todten! Gib mir ein Grab, denn
mich verlangt sehr, durch das Thor des Hades einzuge¬
hen! Bis jetzt hab' ich es nur irrend umwandelt, und es
sitzen als Wächter Seelen da, die mich zurückscheuchen!
Ehe der Scheiterhaufen mir gewährt worden ist, kann ich
nicht zur Ruhe kommen. Du mußt aber wissen, Freund,
daß auch dir vom Schicksal bestimmt ist, nicht ferne von
der Mauer Troja's zu fallen. Richte deßwegen mein
Grab so ein, daß unser beider Gebein neben einander
ruhen kann, wie wir zusammen in deines Vaters Woh¬
nung aufgewachsen sind."

"Ich gelobe dir Alles, Bruder!" rief Achilles und
streckte die Hände nach dem Schattenbilde aus, da sank
die Seele schwirrend zur Erde hinab, wie ein Rauch. Der
Held sprang bestürzt vom Lager auf, schlug die Hände
zusammen und sprach jammernd: "So leben denn die
Seelen wirklich noch in der Behausung des Hades, aber

Fürſten ließen ihn gewähren, ſetzten ſich ans Mahl und
ſchmausten. Dann ging ein jeder zur Nachtruhe. Der
Sohn des Peleus aber, weil die Todten in ſeinem Zelte
waren, legte ſich, von ſeinen Myrmidonen umringt, am
Meergeſtade nieder, wo der kieſige Strand von den Wel¬
len reingeſpült war.

Lange ſeufzte er hier noch auf dem harten Lager um
den erſchlagenen Freund. Als ihn aber endlich der Schlum¬
mer umfangen hatte, da kam die Seele des jammervollen
Patroklus im Traumbilde zu ihm, an Größe, Geſtalt,
Stimme und Augen jenem ganz ähnlich, den Leib einge¬
hüllt in Gewande. So trat der Schatten zu ſeinen Häup¬
ten und ſprach: „Schläfſt du, meiner ſo ganz vergeſſen,
Achilles? Des Lebenden zwar haſt du immerdar gedacht;
aber nicht alſo des Todten! Gib mir ein Grab, denn
mich verlangt ſehr, durch das Thor des Hades einzuge¬
hen! Bis jetzt hab' ich es nur irrend umwandelt, und es
ſitzen als Wächter Seelen da, die mich zurückſcheuchen!
Ehe der Scheiterhaufen mir gewährt worden iſt, kann ich
nicht zur Ruhe kommen. Du mußt aber wiſſen, Freund,
daß auch dir vom Schickſal beſtimmt iſt, nicht ferne von
der Mauer Troja's zu fallen. Richte deßwegen mein
Grab ſo ein, daß unſer beider Gebein neben einander
ruhen kann, wie wir zuſammen in deines Vaters Woh¬
nung aufgewachſen ſind.“

„Ich gelobe dir Alles, Bruder!“ rief Achilles und
ſtreckte die Hände nach dem Schattenbilde aus, da ſank
die Seele ſchwirrend zur Erde hinab, wie ein Rauch. Der
Held ſprang beſtürzt vom Lager auf, ſchlug die Hände
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[290/0312] Fürſten ließen ihn gewähren, ſetzten ſich ans Mahl und ſchmausten. Dann ging ein jeder zur Nachtruhe. Der Sohn des Peleus aber, weil die Todten in ſeinem Zelte waren, legte ſich, von ſeinen Myrmidonen umringt, am Meergeſtade nieder, wo der kieſige Strand von den Wel¬ len reingeſpült war. Lange ſeufzte er hier noch auf dem harten Lager um den erſchlagenen Freund. Als ihn aber endlich der Schlum¬ mer umfangen hatte, da kam die Seele des jammervollen Patroklus im Traumbilde zu ihm, an Größe, Geſtalt, Stimme und Augen jenem ganz ähnlich, den Leib einge¬ hüllt in Gewande. So trat der Schatten zu ſeinen Häup¬ ten und ſprach: „Schläfſt du, meiner ſo ganz vergeſſen, Achilles? Des Lebenden zwar haſt du immerdar gedacht; aber nicht alſo des Todten! Gib mir ein Grab, denn mich verlangt ſehr, durch das Thor des Hades einzuge¬ hen! Bis jetzt hab' ich es nur irrend umwandelt, und es ſitzen als Wächter Seelen da, die mich zurückſcheuchen! Ehe der Scheiterhaufen mir gewährt worden iſt, kann ich nicht zur Ruhe kommen. Du mußt aber wiſſen, Freund, daß auch dir vom Schickſal beſtimmt iſt, nicht ferne von der Mauer Troja's zu fallen. Richte deßwegen mein Grab ſo ein, daß unſer beider Gebein neben einander ruhen kann, wie wir zuſammen in deines Vaters Woh¬ nung aufgewachſen ſind.“ „Ich gelobe dir Alles, Bruder!“ rief Achilles und ſtreckte die Hände nach dem Schattenbilde aus, da ſank die Seele ſchwirrend zur Erde hinab, wie ein Rauch. Der Held ſprang beſtürzt vom Lager auf, ſchlug die Hände zuſammen und ſprach jammernd: „So leben denn die Seelen wirklich noch in der Behauſung des Hades, aber

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/312>, abgerufen am 22.11.2024.