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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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sein gewaltiges Schwert von der Hüfte, und stürmte, das
geschwungene in der Rechten, wie ein Adler einher, der
auf einen geduckten Hasen oder ein Lämmlein aus der
Luft herabschießt. Der Pelide wartete den Streich nicht
ab, auch er drang unter dem Schilde vor; sein Helm
nickte, die Mähne flatterte, und sternhell strahlte sein
Speer, den er grimmig in seiner Rechten schwenkte. Sein
Auge durchspähte den Leib Hektors, forschend, wo etwa
eine Wunde haften könnte. Da fand er Alles blank von
der geraubten Rüstung umhüllt: nur wo Achsel und Hals
das Schlüsselbein verbindet, erschien die Kehle, die gefähr¬
lichste Stelle des Lebens im Leib, ein weniges entblößt.
Dorthin lenkte Achilles schnell besonnen seinen Stoß und
durchstach ihm den Hals so mächtig, daß die Lanzenspitze
zum Genick herausdrang. Doch durchschnitt ihm der
Speer die Gurgel nicht so, daß der Verwundete nicht
noch reden konnte, obgleich er in den Staub sank, wäh¬
rend Achilles laut frohlockte und den Leichnam Hunden
und Vögeln preis zu geben drohte. Da begann der lie¬
gende Hektor, schon schwächer athmend, zu flehen: "Ich
beschwöre dich bei deinem Leben, Achilles, bei deinen
Knieen, bei deinen Eltern, laß mich bei den Schiffen der
Danaer nicht die Hunde zerreißen! Nimm Erz und Gold
so viel du willst zum Geschenk, und entsende dafür mei¬
nen Leib nach Troja, daß Männer und Frauen dort ihm
die Ehre des Scheiterhaufens zu Theil werden lassen."

Aber Achilles schüttelte sein fürchterliches Haupt und
sprach: "Beschwöre mich nicht bei meinen Knieen und
meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand
sey, der dir die Hunde verscheuche von deinem Haupt,
und wenn mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung

ſein gewaltiges Schwert von der Hüfte, und ſtürmte, das
geſchwungene in der Rechten, wie ein Adler einher, der
auf einen geduckten Haſen oder ein Lämmlein aus der
Luft herabſchießt. Der Pelide wartete den Streich nicht
ab, auch er drang unter dem Schilde vor; ſein Helm
nickte, die Mähne flatterte, und ſternhell ſtrahlte ſein
Speer, den er grimmig in ſeiner Rechten ſchwenkte. Sein
Auge durchſpähte den Leib Hektors, forſchend, wo etwa
eine Wunde haften könnte. Da fand er Alles blank von
der geraubten Rüſtung umhüllt: nur wo Achſel und Hals
das Schlüſſelbein verbindet, erſchien die Kehle, die gefähr¬
lichſte Stelle des Lebens im Leib, ein weniges entblößt.
Dorthin lenkte Achilles ſchnell beſonnen ſeinen Stoß und
durchſtach ihm den Hals ſo mächtig, daß die Lanzenſpitze
zum Genick herausdrang. Doch durchſchnitt ihm der
Speer die Gurgel nicht ſo, daß der Verwundete nicht
noch reden konnte, obgleich er in den Staub ſank, wäh¬
rend Achilles laut frohlockte und den Leichnam Hunden
und Vögeln preis zu geben drohte. Da begann der lie¬
gende Hektor, ſchon ſchwächer athmend, zu flehen: „Ich
beſchwöre dich bei deinem Leben, Achilles, bei deinen
Knieen, bei deinen Eltern, laß mich bei den Schiffen der
Danaer nicht die Hunde zerreißen! Nimm Erz und Gold
ſo viel du willſt zum Geſchenk, und entſende dafür mei¬
nen Leib nach Troja, daß Männer und Frauen dort ihm
die Ehre des Scheiterhaufens zu Theil werden laſſen.”

Aber Achilles ſchüttelte ſein fürchterliches Haupt und
ſprach: „Beſchwöre mich nicht bei meinen Knieen und
meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand
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und wenn mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung

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[285/0307] ſein gewaltiges Schwert von der Hüfte, und ſtürmte, das geſchwungene in der Rechten, wie ein Adler einher, der auf einen geduckten Haſen oder ein Lämmlein aus der Luft herabſchießt. Der Pelide wartete den Streich nicht ab, auch er drang unter dem Schilde vor; ſein Helm nickte, die Mähne flatterte, und ſternhell ſtrahlte ſein Speer, den er grimmig in ſeiner Rechten ſchwenkte. Sein Auge durchſpähte den Leib Hektors, forſchend, wo etwa eine Wunde haften könnte. Da fand er Alles blank von der geraubten Rüſtung umhüllt: nur wo Achſel und Hals das Schlüſſelbein verbindet, erſchien die Kehle, die gefähr¬ lichſte Stelle des Lebens im Leib, ein weniges entblößt. Dorthin lenkte Achilles ſchnell beſonnen ſeinen Stoß und durchſtach ihm den Hals ſo mächtig, daß die Lanzenſpitze zum Genick herausdrang. Doch durchſchnitt ihm der Speer die Gurgel nicht ſo, daß der Verwundete nicht noch reden konnte, obgleich er in den Staub ſank, wäh¬ rend Achilles laut frohlockte und den Leichnam Hunden und Vögeln preis zu geben drohte. Da begann der lie¬ gende Hektor, ſchon ſchwächer athmend, zu flehen: „Ich beſchwöre dich bei deinem Leben, Achilles, bei deinen Knieen, bei deinen Eltern, laß mich bei den Schiffen der Danaer nicht die Hunde zerreißen! Nimm Erz und Gold ſo viel du willſt zum Geſchenk, und entſende dafür mei¬ nen Leib nach Troja, daß Männer und Frauen dort ihm die Ehre des Scheiterhaufens zu Theil werden laſſen.” Aber Achilles ſchüttelte ſein fürchterliches Haupt und ſprach: „Beſchwöre mich nicht bei meinen Knieen und meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand ſey, der dir die Hunde verſcheuche von deinem Haupt, und wenn mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/307>, abgerufen am 22.11.2024.