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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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voran, dem ausruhenden Achilles entgegen. Diesem rief
Hektor zuerst zu: "Nicht länger entfliehe ich dir, Pelide:
mein Herz treibt mich, dir fest entgegen zu stehen, daß ich
dich tödte oder falle! Laß uns aber die Götter zu Zeu¬
gen eines Eidschwures nehmen: wenn mir Jupiter den
Sieg verleiht, werde ich dich nimmermehr mißhandeln,
sondern, nachdem ich dir deine Rüstung abgezogen, die
Leiche deinen Volksgenossen zurückgeben. Ein Gleiches
sollst du mir thun!"

"Nicht von Verträgen geplaudert!" erwiederte finster
Achilles, "so wenig ein Hund zwischen Löwen und Men¬
schen Freundschaft stiftet, so wenig zwischen Wölfen und
Lämmern Eintracht besteht, so wenig wirst du mich mit
dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden
stürzen. Nimm deine Kunst zusammen, du mußt Lanzen¬
schwinger und Fechter zugleich seyn. Doch du wirst mir
nicht entrinnen, all das Leid, das du den Meinigen mit
der Lanze angethan hast, das büßest du mir jetzt auf ein¬
mal!" So schalt Achilles und schleuderte die Lanze: doch
Hektor sank ins Knie, und das Geschoß flog über ihn
weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es dem
Peliden, unbemerkt von Hektor, sogleich zurück. Mit zor¬
nigem Schwung entsandte nun Hektor auch seinen Speer,
und dieser fehlte nicht, er traf mitten auf den Schild des
Achilles, aber prallte auch davon ab; bestürzt sah sich
Hektor nach seinem Bruder Deiphobus um, denn er hatte
keine zweite Lanze zu versenden. Doch dieser war ver¬
schwunden. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war,
die ihn getäuscht hatte. Wohl sah er ein, daß das Schick¬
sal ihn jetzt fassen würde; er dachte daher nur darauf,
wie er nicht ruhmlos in den Staub sinken wollte, zog

voran, dem ausruhenden Achilles entgegen. Dieſem rief
Hektor zuerſt zu: „Nicht länger entfliehe ich dir, Pelide:
mein Herz treibt mich, dir feſt entgegen zu ſtehen, daß ich
dich tödte oder falle! Laß uns aber die Götter zu Zeu¬
gen eines Eidſchwures nehmen: wenn mir Jupiter den
Sieg verleiht, werde ich dich nimmermehr mißhandeln,
ſondern, nachdem ich dir deine Rüſtung abgezogen, die
Leiche deinen Volksgenoſſen zurückgeben. Ein Gleiches
ſollſt du mir thun!“

„Nicht von Verträgen geplaudert!“ erwiederte finſter
Achilles, „ſo wenig ein Hund zwiſchen Löwen und Men¬
ſchen Freundſchaft ſtiftet, ſo wenig zwiſchen Wölfen und
Lämmern Eintracht beſteht, ſo wenig wirſt du mich mit
dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden
ſtürzen. Nimm deine Kunſt zuſammen, du mußt Lanzen¬
ſchwinger und Fechter zugleich ſeyn. Doch du wirſt mir
nicht entrinnen, all das Leid, das du den Meinigen mit
der Lanze angethan haſt, das büßeſt du mir jetzt auf ein¬
mal!“ So ſchalt Achilles und ſchleuderte die Lanze: doch
Hektor ſank ins Knie, und das Geſchoß flog über ihn
weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es dem
Peliden, unbemerkt von Hektor, ſogleich zurück. Mit zor¬
nigem Schwung entſandte nun Hektor auch ſeinen Speer,
und dieſer fehlte nicht, er traf mitten auf den Schild des
Achilles, aber prallte auch davon ab; beſtürzt ſah ſich
Hektor nach ſeinem Bruder Deiphobus um, denn er hatte
keine zweite Lanze zu verſenden. Doch dieſer war ver¬
ſchwunden. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war,
die ihn getäuſcht hatte. Wohl ſah er ein, daß das Schick¬
ſal ihn jetzt faſſen würde; er dachte daher nur darauf,
wie er nicht ruhmlos in den Staub ſinken wollte, zog

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[284/0306] voran, dem ausruhenden Achilles entgegen. Dieſem rief Hektor zuerſt zu: „Nicht länger entfliehe ich dir, Pelide: mein Herz treibt mich, dir feſt entgegen zu ſtehen, daß ich dich tödte oder falle! Laß uns aber die Götter zu Zeu¬ gen eines Eidſchwures nehmen: wenn mir Jupiter den Sieg verleiht, werde ich dich nimmermehr mißhandeln, ſondern, nachdem ich dir deine Rüſtung abgezogen, die Leiche deinen Volksgenoſſen zurückgeben. Ein Gleiches ſollſt du mir thun!“ „Nicht von Verträgen geplaudert!“ erwiederte finſter Achilles, „ſo wenig ein Hund zwiſchen Löwen und Men¬ ſchen Freundſchaft ſtiftet, ſo wenig zwiſchen Wölfen und Lämmern Eintracht beſteht, ſo wenig wirſt du mich mit dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden ſtürzen. Nimm deine Kunſt zuſammen, du mußt Lanzen¬ ſchwinger und Fechter zugleich ſeyn. Doch du wirſt mir nicht entrinnen, all das Leid, das du den Meinigen mit der Lanze angethan haſt, das büßeſt du mir jetzt auf ein¬ mal!“ So ſchalt Achilles und ſchleuderte die Lanze: doch Hektor ſank ins Knie, und das Geſchoß flog über ihn weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es dem Peliden, unbemerkt von Hektor, ſogleich zurück. Mit zor¬ nigem Schwung entſandte nun Hektor auch ſeinen Speer, und dieſer fehlte nicht, er traf mitten auf den Schild des Achilles, aber prallte auch davon ab; beſtürzt ſah ſich Hektor nach ſeinem Bruder Deiphobus um, denn er hatte keine zweite Lanze zu verſenden. Doch dieſer war ver¬ ſchwunden. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war, die ihn getäuſcht hatte. Wohl ſah er ein, daß das Schick¬ ſal ihn jetzt faſſen würde; er dachte daher nur darauf, wie er nicht ruhmlos in den Staub ſinken wollte, zog

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/306>, abgerufen am 25.11.2024.