Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

wange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Brust
entsteigen. Die Trojaner sollen merken, daß ich lange
genug vom Kriege gerastet habe! Verwehre mir den
Kampf nicht, liebe Mutter!"

"Du hast Recht, mein Kind," antwortete ihm Thetis,
"nur schade, daß deine strahlende Rüstung in der Gewalt
der Trojaner ist und Hektor selbst in ihr einherstolzirt.
Doch soll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller
Frühe, sobald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue
Waffen, die Hephästus selbst geschmiedet. Nur geh mir
nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen
Augen zurückkommen sahest." So sprach die Göttin und
hieß ihre Schwestern in den Schooß des Meeres wieder
hinabtauchen. Sie selbst eilte hinauf zum Olymp, den
Gott der Feuerarbeit, Hephästus oder Vulkan, aufzusuchen.

In dieser Zeit ereilte den Leichnam des Patroklus,
den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner
noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daherstürmendem
Feuer, so nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte,
um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von
dem Todten hinwegstoßen mußten. Nun wüthete er seit¬
wärts durchs Schlachtengewühl, stand dann wieder von
Neuem und schrie laut auf; zurückweichen wollte er nim¬
mermehr. Vergebens bestrebten sich die beiden gleich¬
namigen Helden, ihn von dem Leichnam abzuschrecken, wie
Hirten bei Nacht umsonst eineu hungrigen Berglöwen
vom Leibe des zerrissenen Rindes zu verscheuchen bemü¬
het sind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche ge¬
raubt, wäre nicht Iris auf Juno's Befehl mit der Bot¬
schaft zu dem Peliden geflogen, sich von Jupiter und den
andern Göttern ungesehen, heimlich zu bewaffnen. "Aber

wange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Bruſt
entſteigen. Die Trojaner ſollen merken, daß ich lange
genug vom Kriege geraſtet habe! Verwehre mir den
Kampf nicht, liebe Mutter!“

„Du haſt Recht, mein Kind,“ antwortete ihm Thetis,
„nur ſchade, daß deine ſtrahlende Rüſtung in der Gewalt
der Trojaner iſt und Hektor ſelbſt in ihr einherſtolzirt.
Doch ſoll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller
Frühe, ſobald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue
Waffen, die Hephäſtus ſelbſt geſchmiedet. Nur geh mir
nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen
Augen zurückkommen ſaheſt.“ So ſprach die Göttin und
hieß ihre Schweſtern in den Schooß des Meeres wieder
hinabtauchen. Sie ſelbſt eilte hinauf zum Olymp, den
Gott der Feuerarbeit, Hephäſtus oder Vulkan, aufzuſuchen.

In dieſer Zeit ereilte den Leichnam des Patroklus,
den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner
noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daherſtürmendem
Feuer, ſo nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte,
um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von
dem Todten hinwegſtoßen mußten. Nun wüthete er ſeit¬
wärts durchs Schlachtengewühl, ſtand dann wieder von
Neuem und ſchrie laut auf; zurückweichen wollte er nim¬
mermehr. Vergebens beſtrebten ſich die beiden gleich¬
namigen Helden, ihn von dem Leichnam abzuſchrecken, wie
Hirten bei Nacht umſonſt eineu hungrigen Berglöwen
vom Leibe des zerriſſenen Rindes zu verſcheuchen bemü¬
het ſind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche ge¬
raubt, wäre nicht Iris auf Juno's Befehl mit der Bot¬
ſchaft zu dem Peliden geflogen, ſich von Jupiter und den
andern Göttern ungeſehen, heimlich zu bewaffnen. „Aber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0262" n="240"/>
wange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Bru&#x017F;t<lb/>
ent&#x017F;teigen. Die Trojaner &#x017F;ollen merken, daß ich lange<lb/>
genug vom Kriege gera&#x017F;tet habe! Verwehre mir den<lb/>
Kampf nicht, liebe Mutter!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Du ha&#x017F;t Recht, mein Kind,&#x201C; antwortete ihm Thetis,<lb/>
&#x201E;nur &#x017F;chade, daß deine &#x017F;trahlende Rü&#x017F;tung in der Gewalt<lb/>
der Trojaner i&#x017F;t und Hektor &#x017F;elb&#x017F;t in ihr einher&#x017F;tolzirt.<lb/>
Doch &#x017F;oll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller<lb/>
Frühe, &#x017F;obald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue<lb/>
Waffen, die Hephä&#x017F;tus &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chmiedet. Nur geh mir<lb/>
nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen<lb/>
Augen zurückkommen &#x017F;ahe&#x017F;t.&#x201C; So &#x017F;prach die Göttin und<lb/>
hieß ihre Schwe&#x017F;tern in den Schooß des Meeres wieder<lb/>
hinabtauchen. Sie &#x017F;elb&#x017F;t eilte hinauf zum Olymp, den<lb/>
Gott der Feuerarbeit, Hephä&#x017F;tus oder Vulkan, aufzu&#x017F;uchen.</p><lb/>
          <p>In die&#x017F;er Zeit ereilte den Leichnam des Patroklus,<lb/>
den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner<lb/>
noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daher&#x017F;türmendem<lb/>
Feuer, &#x017F;o nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte,<lb/>
um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von<lb/>
dem Todten hinweg&#x017F;toßen mußten. Nun wüthete er &#x017F;eit¬<lb/>
wärts durchs Schlachtengewühl, &#x017F;tand dann wieder von<lb/>
Neuem und &#x017F;chrie laut auf; zurückweichen wollte er nim¬<lb/>
mermehr. Vergebens be&#x017F;trebten &#x017F;ich die beiden gleich¬<lb/>
namigen Helden, ihn von dem Leichnam abzu&#x017F;chrecken, wie<lb/>
Hirten bei Nacht um&#x017F;on&#x017F;t eineu hungrigen Berglöwen<lb/>
vom Leibe des zerri&#x017F;&#x017F;enen Rindes zu ver&#x017F;cheuchen bemü¬<lb/>
het &#x017F;ind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche ge¬<lb/>
raubt, wäre nicht Iris auf Juno's Befehl mit der Bot¬<lb/>
&#x017F;chaft zu dem Peliden geflogen, &#x017F;ich von Jupiter und den<lb/>
andern Göttern unge&#x017F;ehen, heimlich zu bewaffnen. &#x201E;Aber<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0262] wange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Bruſt entſteigen. Die Trojaner ſollen merken, daß ich lange genug vom Kriege geraſtet habe! Verwehre mir den Kampf nicht, liebe Mutter!“ „Du haſt Recht, mein Kind,“ antwortete ihm Thetis, „nur ſchade, daß deine ſtrahlende Rüſtung in der Gewalt der Trojaner iſt und Hektor ſelbſt in ihr einherſtolzirt. Doch ſoll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller Frühe, ſobald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue Waffen, die Hephäſtus ſelbſt geſchmiedet. Nur geh mir nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen Augen zurückkommen ſaheſt.“ So ſprach die Göttin und hieß ihre Schweſtern in den Schooß des Meeres wieder hinabtauchen. Sie ſelbſt eilte hinauf zum Olymp, den Gott der Feuerarbeit, Hephäſtus oder Vulkan, aufzuſuchen. In dieſer Zeit ereilte den Leichnam des Patroklus, den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daherſtürmendem Feuer, ſo nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte, um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von dem Todten hinwegſtoßen mußten. Nun wüthete er ſeit¬ wärts durchs Schlachtengewühl, ſtand dann wieder von Neuem und ſchrie laut auf; zurückweichen wollte er nim¬ mermehr. Vergebens beſtrebten ſich die beiden gleich¬ namigen Helden, ihn von dem Leichnam abzuſchrecken, wie Hirten bei Nacht umſonſt eineu hungrigen Berglöwen vom Leibe des zerriſſenen Rindes zu verſcheuchen bemü¬ het ſind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche ge¬ raubt, wäre nicht Iris auf Juno's Befehl mit der Bot¬ ſchaft zu dem Peliden geflogen, ſich von Jupiter und den andern Göttern ungeſehen, heimlich zu bewaffnen. „Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/262
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/262>, abgerufen am 22.11.2024.