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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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mächtige Lanzen. Gern hätte er den mörderischen Speer
seines Freundes Achilles selbst genommen, der aus einer
Esche des thessalischen Berges Pelion gezimmert war und
den sein Erzieher, der Centaure Chiron, dem Vater Pe¬
leus geschenkt hatte; dieser aber war so groß und schwer,
daß ihn ausser dem Peliden kein anderer Held schwingen
konnte. Nun ließ Patroklus seinen Freund und Wagen¬
lenker Automedon die Rosse Xanthus und Balius anschir¬
ren, die unsterblichen Kinder der Harpyie Podarge und
des Zephyrus, die Achilles einst aus der Stadt Thebe als
Beute fortgeführt hatte: Achilles aber rief sein Myrmido¬
nenvolk unter die Waffen, und diese stürmten schlacht¬
begierig, hungrigen Wölfen gleich, herbei, je fünfzig
Männer aus den fünfzig Schiffen; ihre Schlachtreihen
führten fünf Kriegsobersten: Menesthius, der Sohn des
Stromgottes Sperchius; Eudorus, der Sohn Merkurs und
der Jungfrau Polymele; Pisander, der Sohn des Mämalus,
nach Patroklus der beste Kämpfer in der Schaar; endlich
der ergraute Phönix und Alcimedon, der Sohn des Laerkes.

Den Abziehenden rief der Pelide zu: "Vergesse mir
Keiner, ihr Myrmidonen, wie oft ihr während meines
Zornes den Trojanern gedroht und unmuthig meine Galle
gescholten habt, welche die Streitgenossen mit Zwang vom
Kampfe zurückhalte. Endlich ist die Stunde, nach der ihr
geschmachtet, erschienen: kämpfe nun, wem es das mu¬
thige Herz befiehlt!" Als er so gesprochen, zog er sich
in sein Zelt zurück und holte aus dem Kasten, den, voll
von Leibröcken, Decken und Mänteln, auch andern kost¬
baren Dingen, seine Mutter Thetis ihm mit aufs Schiff
gegeben hatte, einen kunstreichen Becher hervor, aus dem
kein anderer Mann je den funkelnden Wein getrunken

mächtige Lanzen. Gern hätte er den mörderiſchen Speer
ſeines Freundes Achilles ſelbſt genommen, der aus einer
Eſche des theſſaliſchen Berges Pelion gezimmert war und
den ſein Erzieher, der Centaure Chiron, dem Vater Pe¬
leus geſchenkt hatte; dieſer aber war ſo groß und ſchwer,
daß ihn auſſer dem Peliden kein anderer Held ſchwingen
konnte. Nun ließ Patroklus ſeinen Freund und Wagen¬
lenker Automedon die Roſſe Xanthus und Balius anſchir¬
ren, die unſterblichen Kinder der Harpyie Podarge und
des Zephyrus, die Achilles einſt aus der Stadt Thebe als
Beute fortgeführt hatte: Achilles aber rief ſein Myrmido¬
nenvolk unter die Waffen, und dieſe ſtürmten ſchlacht¬
begierig, hungrigen Wölfen gleich, herbei, je fünfzig
Männer aus den fünfzig Schiffen; ihre Schlachtreihen
führten fünf Kriegsoberſten: Meneſthius, der Sohn des
Stromgottes Sperchius; Eudorus, der Sohn Merkurs und
der Jungfrau Polymele; Piſander, der Sohn des Mämalus,
nach Patroklus der beſte Kämpfer in der Schaar; endlich
der ergraute Phönix und Alcimedon, der Sohn des Laerkes.

Den Abziehenden rief der Pelide zu: „Vergeſſe mir
Keiner, ihr Myrmidonen, wie oft ihr während meines
Zornes den Trojanern gedroht und unmuthig meine Galle
geſcholten habt, welche die Streitgenoſſen mit Zwang vom
Kampfe zurückhalte. Endlich iſt die Stunde, nach der ihr
geſchmachtet, erſchienen: kämpfe nun, wem es das mu¬
thige Herz befiehlt!“ Als er ſo geſprochen, zog er ſich
in ſein Zelt zurück und holte aus dem Kaſten, den, voll
von Leibröcken, Decken und Mänteln, auch andern koſt¬
baren Dingen, ſeine Mutter Thetis ihm mit aufs Schiff
gegeben hatte, einen kunſtreichen Becher hervor, aus dem
kein anderer Mann je den funkelnden Wein getrunken

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[218/0240] mächtige Lanzen. Gern hätte er den mörderiſchen Speer ſeines Freundes Achilles ſelbſt genommen, der aus einer Eſche des theſſaliſchen Berges Pelion gezimmert war und den ſein Erzieher, der Centaure Chiron, dem Vater Pe¬ leus geſchenkt hatte; dieſer aber war ſo groß und ſchwer, daß ihn auſſer dem Peliden kein anderer Held ſchwingen konnte. Nun ließ Patroklus ſeinen Freund und Wagen¬ lenker Automedon die Roſſe Xanthus und Balius anſchir¬ ren, die unſterblichen Kinder der Harpyie Podarge und des Zephyrus, die Achilles einſt aus der Stadt Thebe als Beute fortgeführt hatte: Achilles aber rief ſein Myrmido¬ nenvolk unter die Waffen, und dieſe ſtürmten ſchlacht¬ begierig, hungrigen Wölfen gleich, herbei, je fünfzig Männer aus den fünfzig Schiffen; ihre Schlachtreihen führten fünf Kriegsoberſten: Meneſthius, der Sohn des Stromgottes Sperchius; Eudorus, der Sohn Merkurs und der Jungfrau Polymele; Piſander, der Sohn des Mämalus, nach Patroklus der beſte Kämpfer in der Schaar; endlich der ergraute Phönix und Alcimedon, der Sohn des Laerkes. Den Abziehenden rief der Pelide zu: „Vergeſſe mir Keiner, ihr Myrmidonen, wie oft ihr während meines Zornes den Trojanern gedroht und unmuthig meine Galle geſcholten habt, welche die Streitgenoſſen mit Zwang vom Kampfe zurückhalte. Endlich iſt die Stunde, nach der ihr geſchmachtet, erſchienen: kämpfe nun, wem es das mu¬ thige Herz befiehlt!“ Als er ſo geſprochen, zog er ſich in ſein Zelt zurück und holte aus dem Kaſten, den, voll von Leibröcken, Decken und Mänteln, auch andern koſt¬ baren Dingen, ſeine Mutter Thetis ihm mit aufs Schiff gegeben hatte, einen kunſtreichen Becher hervor, aus dem kein anderer Mann je den funkelnden Wein getrunken

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/240>, abgerufen am 20.04.2024.