und die Nacht dort erwarten. Ziehet sich alsdann Troja's Volk zurück, so wollen wir auch die übrigen Schiffe in die Wogen ziehen und noch bei Nacht der Gefahr ent¬ rinnen." Mit Unwillen hörte Odysseus diesen Vorschlag. "Atride," sprach er, "du verdientest ein feigeres Kriegsvolk anzuführen, als das unsrige. Mitten im Treffen ermah¬ nest du, die Schiffe ins Meer hinabzuziehen, daß die armen Griechen in Angst umschauen, der Streitlust ver¬ gessen, und verlassen auf der Schlachtbank zurückbleiben?" "Ferne sey das von mir," erwiederte Agamemnon, "daß ich wider Willen der Argiver und ohne sie zu hören sol¬ ches thun wollte! Auch gebe ich meinen Rath gerne auf, wenn Einer besseren vorzubringen weiß." "Der beste Rath ist," rief der Tydide, "daß wir sogleich in die Schlacht zurückkehren, und wenn wir auch nicht selbst zu kämpfen vermögen, doch die Andern als ehrliche Volks¬ führer zur Tapferkeit ermahnen."
Dieses Wort hörte mit Wohlgefallen der Beschirmer der Griechen, der Meergott, der schon lange das Gespräch der Helden belauscht hatte. Er trat in Gestalt eines greisen Kriegers zu ihnen, drückte dem Agamemnon die Hand und sprach: "Schande dem Achilles, der sich jetzt der Griechenflucht erfreuet! Aber seyd getrost; noch hassen euch die Götter nicht so, daß ihr nicht bald den Staub von der Trojanerflucht aufwirbeln sehen solltet!" So sprach der Gott und stürmte von ihnen weg durchs Ge¬ filde, indem er seinen Schlachtruf in das Heer der Grie¬ chen hineinschallen ließ, der wie zehntausend Männerstimmen brüllte und jedes Helden Herz mit Muth durchdrang.
Auch die Himmelskönigin Juno, die vom Olymp herab den Kampf überschaute, blieb jetzt nicht unthätig,
und die Nacht dort erwarten. Ziehet ſich alsdann Troja's Volk zurück, ſo wollen wir auch die übrigen Schiffe in die Wogen ziehen und noch bei Nacht der Gefahr ent¬ rinnen.“ Mit Unwillen hörte Odyſſeus dieſen Vorſchlag. „Atride,“ ſprach er, „du verdienteſt ein feigeres Kriegsvolk anzuführen, als das unſrige. Mitten im Treffen ermah¬ neſt du, die Schiffe ins Meer hinabzuziehen, daß die armen Griechen in Angſt umſchauen, der Streitluſt ver¬ geſſen, und verlaſſen auf der Schlachtbank zurückbleiben?“ „Ferne ſey das von mir,“ erwiederte Agamemnon, „daß ich wider Willen der Argiver und ohne ſie zu hören ſol¬ ches thun wollte! Auch gebe ich meinen Rath gerne auf, wenn Einer beſſeren vorzubringen weiß.“ „Der beſte Rath iſt,“ rief der Tydide, „daß wir ſogleich in die Schlacht zurückkehren, und wenn wir auch nicht ſelbſt zu kämpfen vermögen, doch die Andern als ehrliche Volks¬ führer zur Tapferkeit ermahnen.“
Dieſes Wort hörte mit Wohlgefallen der Beſchirmer der Griechen, der Meergott, der ſchon lange das Geſpräch der Helden belauſcht hatte. Er trat in Geſtalt eines greiſen Kriegers zu ihnen, drückte dem Agamemnon die Hand und ſprach: „Schande dem Achilles, der ſich jetzt der Griechenflucht erfreuet! Aber ſeyd getroſt; noch haſſen euch die Götter nicht ſo, daß ihr nicht bald den Staub von der Trojanerflucht aufwirbeln ſehen ſolltet!“ So ſprach der Gott und ſtürmte von ihnen weg durchs Ge¬ filde, indem er ſeinen Schlachtruf in das Heer der Grie¬ chen hineinſchallen ließ, der wie zehntauſend Männerſtimmen brüllte und jedes Helden Herz mit Muth durchdrang.
Auch die Himmelskönigin Juno, die vom Olymp herab den Kampf überſchaute, blieb jetzt nicht unthätig,
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und die Nacht dort erwarten. Ziehet ſich alsdann Troja's
Volk zurück, ſo wollen wir auch die übrigen Schiffe in
die Wogen ziehen und noch bei Nacht der Gefahr ent¬
rinnen.“ Mit Unwillen hörte Odyſſeus dieſen Vorſchlag.
„Atride,“ ſprach er, „du verdienteſt ein feigeres Kriegsvolk
anzuführen, als das unſrige. Mitten im Treffen ermah¬
neſt du, die Schiffe ins Meer hinabzuziehen, daß die
armen Griechen in Angſt umſchauen, der Streitluſt ver¬
geſſen, und verlaſſen auf der Schlachtbank zurückbleiben?“
„Ferne ſey das von mir,“ erwiederte Agamemnon, „daß
ich wider Willen der Argiver und ohne ſie zu hören ſol¬
ches thun wollte! Auch gebe ich meinen Rath gerne auf,
wenn Einer beſſeren vorzubringen weiß.“ „Der beſte
Rath iſt,“ rief der Tydide, „daß wir ſogleich in die
Schlacht zurückkehren, und wenn wir auch nicht ſelbſt zu
kämpfen vermögen, doch die Andern als ehrliche Volks¬
führer zur Tapferkeit ermahnen.“
Dieſes Wort hörte mit Wohlgefallen der Beſchirmer
der Griechen, der Meergott, der ſchon lange das Geſpräch
der Helden belauſcht hatte. Er trat in Geſtalt eines
greiſen Kriegers zu ihnen, drückte dem Agamemnon die
Hand und ſprach: „Schande dem Achilles, der ſich jetzt
der Griechenflucht erfreuet! Aber ſeyd getroſt; noch haſſen
euch die Götter nicht ſo, daß ihr nicht bald den Staub
von der Trojanerflucht aufwirbeln ſehen ſolltet!“ So
ſprach der Gott und ſtürmte von ihnen weg durchs Ge¬
filde, indem er ſeinen Schlachtruf in das Heer der Grie¬
chen hineinſchallen ließ, der wie zehntauſend Männerſtimmen
brüllte und jedes Helden Herz mit Muth durchdrang.
Auch die Himmelskönigin Juno, die vom Olymp
herab den Kampf überſchaute, blieb jetzt nicht unthätig,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/221>, abgerufen am 29.11.2024.
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