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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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als sie Neptunus, ihren Bruder und Schwager, zu Gun¬
sten ihrer Freunde sich in die Schlacht mischen sah. Und
wie sie ihren Gemahl Jupiter so feindselig auf dem
Gipfel des Ida sitzend erblickte, zürnte sie ihm in der tiefsten
Seele und sann hin und her, wie sie ihn täuschen und
von der Sorge für den Kampf abziehen möchte. Ein
glücklicher Gedanke stieg ihr plötzlich im Herzen auf. Sie
eilte in das verborgenste Gemach, das ihr Sohn Hephä¬
stus im Götterpallaste ihr kunstreich gezimmert, und dessen
Pforte er mit unlösbaren Riegeln befestigt hatte. Dieses
betrat sie und schloß die Thürflügel hinter sich. Hier
badete und salbte sie mit ambrosischem Oel ihre schöne
Gestalt, flocht ihr Haupthaar in glänzende Locken um den
unsterblichen Scheitel, hüllte sich in das köstliche Gewand,
das ihr Minerva zart und künstlich gewirkt hatte, heftete
es über der Brust mit goldenen Spangen fest, umschlang
sich mit dem schimmernden Gürtel, fügte sich die funkeln¬
den Juwelengehänge in die Ohren, umhüllte das Haupt
mit einem durchsichtigen Schleier, und band sich zierliche
Sohlen unter ihre glänzenden Füße. So von Anmuth
leuchtend verließ sie das Gemach und suchte Aphrodite,
die Liebesgöttin, auf. "Grolle mir nicht, Töchterchen,"
sprach sie liebkosend, "weil ich die Griechen und du die
Trojaner beschützest; und versage mir nicht, um was mein
Herz dich bittet. Leihe mir den Zaubergürtel der Liebe,
der Menschen und Götter bezähmt, denn ich will an die
Gränze der Erde gehen, den Oceanus und die Tethys,
meine Pflegeeltern, aufzusuchen, die in Zwistigkeiten leben.
Ich möchte ihr Herz durch freundliche Worte zur Versöh¬
nung bewegen, und dazu brauche ich deinen Gürtel."
Venus, die den Trug nicht durchschaute, erwiederte arglos:

als ſie Neptunus, ihren Bruder und Schwager, zu Gun¬
ſten ihrer Freunde ſich in die Schlacht miſchen ſah. Und
wie ſie ihren Gemahl Jupiter ſo feindſelig auf dem
Gipfel des Ida ſitzend erblickte, zürnte ſie ihm in der tiefſten
Seele und ſann hin und her, wie ſie ihn täuſchen und
von der Sorge für den Kampf abziehen möchte. Ein
glücklicher Gedanke ſtieg ihr plötzlich im Herzen auf. Sie
eilte in das verborgenſte Gemach, das ihr Sohn Hephä¬
ſtus im Götterpallaſte ihr kunſtreich gezimmert, und deſſen
Pforte er mit unlösbaren Riegeln befeſtigt hatte. Dieſes
betrat ſie und ſchloß die Thürflügel hinter ſich. Hier
badete und ſalbte ſie mit ambroſiſchem Oel ihre ſchöne
Geſtalt, flocht ihr Haupthaar in glänzende Locken um den
unſterblichen Scheitel, hüllte ſich in das köſtliche Gewand,
das ihr Minerva zart und künſtlich gewirkt hatte, heftete
es über der Bruſt mit goldenen Spangen feſt, umſchlang
ſich mit dem ſchimmernden Gürtel, fügte ſich die funkeln¬
den Juwelengehänge in die Ohren, umhüllte das Haupt
mit einem durchſichtigen Schleier, und band ſich zierliche
Sohlen unter ihre glänzenden Füße. So von Anmuth
leuchtend verließ ſie das Gemach und ſuchte Aphrodite,
die Liebesgöttin, auf. „Grolle mir nicht, Töchterchen,“
ſprach ſie liebkoſend, „weil ich die Griechen und du die
Trojaner beſchützeſt; und verſage mir nicht, um was mein
Herz dich bittet. Leihe mir den Zaubergürtel der Liebe,
der Menſchen und Götter bezähmt, denn ich will an die
Gränze der Erde gehen, den Oceanus und die Tethys,
meine Pflegeeltern, aufzuſuchen, die in Zwiſtigkeiten leben.
Ich möchte ihr Herz durch freundliche Worte zur Verſöh¬
nung bewegen, und dazu brauche ich deinen Gürtel.“
Venus, die den Trug nicht durchſchaute, erwiederte arglos:

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[200/0222] als ſie Neptunus, ihren Bruder und Schwager, zu Gun¬ ſten ihrer Freunde ſich in die Schlacht miſchen ſah. Und wie ſie ihren Gemahl Jupiter ſo feindſelig auf dem Gipfel des Ida ſitzend erblickte, zürnte ſie ihm in der tiefſten Seele und ſann hin und her, wie ſie ihn täuſchen und von der Sorge für den Kampf abziehen möchte. Ein glücklicher Gedanke ſtieg ihr plötzlich im Herzen auf. Sie eilte in das verborgenſte Gemach, das ihr Sohn Hephä¬ ſtus im Götterpallaſte ihr kunſtreich gezimmert, und deſſen Pforte er mit unlösbaren Riegeln befeſtigt hatte. Dieſes betrat ſie und ſchloß die Thürflügel hinter ſich. Hier badete und ſalbte ſie mit ambroſiſchem Oel ihre ſchöne Geſtalt, flocht ihr Haupthaar in glänzende Locken um den unſterblichen Scheitel, hüllte ſich in das köſtliche Gewand, das ihr Minerva zart und künſtlich gewirkt hatte, heftete es über der Bruſt mit goldenen Spangen feſt, umſchlang ſich mit dem ſchimmernden Gürtel, fügte ſich die funkeln¬ den Juwelengehänge in die Ohren, umhüllte das Haupt mit einem durchſichtigen Schleier, und band ſich zierliche Sohlen unter ihre glänzenden Füße. So von Anmuth leuchtend verließ ſie das Gemach und ſuchte Aphrodite, die Liebesgöttin, auf. „Grolle mir nicht, Töchterchen,“ ſprach ſie liebkoſend, „weil ich die Griechen und du die Trojaner beſchützeſt; und verſage mir nicht, um was mein Herz dich bittet. Leihe mir den Zaubergürtel der Liebe, der Menſchen und Götter bezähmt, denn ich will an die Gränze der Erde gehen, den Oceanus und die Tethys, meine Pflegeeltern, aufzuſuchen, die in Zwiſtigkeiten leben. Ich möchte ihr Herz durch freundliche Worte zur Verſöh¬ nung bewegen, und dazu brauche ich deinen Gürtel.“ Venus, die den Trug nicht durchſchaute, erwiederte arglos:

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/222>, abgerufen am 29.11.2024.