das Uebel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch wenigstens nur die Genossin eines besseren Mannes, der die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er sich zuzieht, auch empfände; so aber hat er kein Herz im Leibe und wird keines haben, und die Frucht seiner Feigheit wird nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des schändlichen Weibes, die wegen der Frevelthat meines Gatten doch zumeist auf deinen Schultern lastet!" "Nein, Helena," sprach Hektor, "heiß mich nicht so freundlich sitzen, ich darf wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu helfen. Muntere du nur diesen Menschen da auf, und er selbst treibe an sich, daß er mich bald noch innerhalb der Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und Gesinde schauen." So sprach Hektor und enteilte. Aber er fand die Gattin nicht zu Hause. "Als sie hörte," sprach zu ihm die Schaffnerin, "daß die Trojaner Noth leiden und der Sieg sich zu den Griechen neige, verließ sie die Wohnung wie außer sich, um einen der Stadtthürme zu besteigen und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen."
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Troja's jetzt wieder zurück. Als er das Skäische Thor erreicht, kam seine Gemahlin Andromache, die blühende Tochter des cilicischen Eetion von Theben, eilenden Laufes gegen ihn her, die Dienerin, ihr folgend, trug das unmün¬ dige Knäblein Astyanax, schön wie ein Stern, an der Brust. Mit stillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben, Andromache aber trat ihm unter Thränen zur Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und sprach: "Entsetz¬ licher Mann! gewiß tödtet dich noch dein Muth, und du
das Uebel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch wenigſtens nur die Genoſſin eines beſſeren Mannes, der die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er ſich zuzieht, auch empfände; ſo aber hat er kein Herz im Leibe und wird keines haben, und die Frucht ſeiner Feigheit wird nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des ſchändlichen Weibes, die wegen der Frevelthat meines Gatten doch zumeiſt auf deinen Schultern laſtet!“ „Nein, Helena,“ ſprach Hektor, „heiß mich nicht ſo freundlich ſitzen, ich darf wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu helfen. Muntere du nur dieſen Menſchen da auf, und er ſelbſt treibe an ſich, daß er mich bald noch innerhalb der Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und Geſinde ſchauen.“ So ſprach Hektor und enteilte. Aber er fand die Gattin nicht zu Hauſe. „Als ſie hörte,“ ſprach zu ihm die Schaffnerin, „daß die Trojaner Noth leiden und der Sieg ſich zu den Griechen neige, verließ ſie die Wohnung wie außer ſich, um einen der Stadtthürme zu beſteigen und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.“
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Troja's jetzt wieder zurück. Als er das Skäiſche Thor erreicht, kam ſeine Gemahlin Andromache, die blühende Tochter des ciliciſchen Eëtion von Theben, eilenden Laufes gegen ihn her, die Dienerin, ihr folgend, trug das unmün¬ dige Knäblein Aſtyanax, ſchön wie ein Stern, an der Bruſt. Mit ſtillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben, Andromache aber trat ihm unter Thränen zur Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und ſprach: „Entſetz¬ licher Mann! gewiß tödtet dich noch dein Muth, und du
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0162"n="140"/>
das Uebel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch<lb/>
wenigſtens nur die Genoſſin eines beſſeren Mannes, der<lb/>
die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er ſich zuzieht,<lb/>
auch empfände; ſo aber hat er kein Herz im Leibe und<lb/>
wird keines haben, und die Frucht ſeiner Feigheit wird<lb/>
nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und<lb/>
ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des ſchändlichen<lb/>
Weibes, die wegen der Frevelthat meines Gatten doch<lb/>
zumeiſt auf deinen Schultern laſtet!“„Nein, Helena,“<lb/>ſprach Hektor, „heiß mich nicht ſo freundlich ſitzen, ich darf<lb/>
wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu<lb/>
helfen. Muntere du nur dieſen Menſchen da auf, und er<lb/>ſelbſt treibe an ſich, daß er mich bald noch innerhalb der<lb/>
Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine<lb/>
eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und<lb/>
Geſinde ſchauen.“ So ſprach Hektor und enteilte. Aber<lb/>
er fand die Gattin nicht zu Hauſe. „Als ſie hörte,“ſprach<lb/>
zu ihm die Schaffnerin, „daß die Trojaner Noth leiden<lb/>
und der Sieg ſich zu den Griechen neige, verließ ſie die<lb/>
Wohnung wie außer ſich, um einen der Stadtthürme zu<lb/>
beſteigen und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.“</p><lb/><p>Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen<lb/>
Troja's jetzt wieder zurück. Als er das Skäiſche Thor<lb/>
erreicht, kam ſeine Gemahlin Andromache, die blühende<lb/>
Tochter des ciliciſchen E<hirendition="#aq">ë</hi>tion von Theben, eilenden Laufes<lb/>
gegen ihn her, die Dienerin, ihr folgend, trug das unmün¬<lb/>
dige Knäblein Aſtyanax, ſchön wie ein Stern, an der<lb/>
Bruſt. Mit ſtillem Lächeln betrachtete der Vater den<lb/>
Knaben, Andromache aber trat ihm unter Thränen zur<lb/>
Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und ſprach: „Entſetz¬<lb/>
licher Mann! gewiß tödtet dich noch dein Muth, und du<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[140/0162]
das Uebel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch
wenigſtens nur die Genoſſin eines beſſeren Mannes, der
die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er ſich zuzieht,
auch empfände; ſo aber hat er kein Herz im Leibe und
wird keines haben, und die Frucht ſeiner Feigheit wird
nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und
ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des ſchändlichen
Weibes, die wegen der Frevelthat meines Gatten doch
zumeiſt auf deinen Schultern laſtet!“ „Nein, Helena,“
ſprach Hektor, „heiß mich nicht ſo freundlich ſitzen, ich darf
wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu
helfen. Muntere du nur dieſen Menſchen da auf, und er
ſelbſt treibe an ſich, daß er mich bald noch innerhalb der
Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine
eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und
Geſinde ſchauen.“ So ſprach Hektor und enteilte. Aber
er fand die Gattin nicht zu Hauſe. „Als ſie hörte,“ ſprach
zu ihm die Schaffnerin, „daß die Trojaner Noth leiden
und der Sieg ſich zu den Griechen neige, verließ ſie die
Wohnung wie außer ſich, um einen der Stadtthürme zu
beſteigen und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.“
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen
Troja's jetzt wieder zurück. Als er das Skäiſche Thor
erreicht, kam ſeine Gemahlin Andromache, die blühende
Tochter des ciliciſchen Eëtion von Theben, eilenden Laufes
gegen ihn her, die Dienerin, ihr folgend, trug das unmün¬
dige Knäblein Aſtyanax, ſchön wie ein Stern, an der
Bruſt. Mit ſtillem Lächeln betrachtete der Vater den
Knaben, Andromache aber trat ihm unter Thränen zur
Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und ſprach: „Entſetz¬
licher Mann! gewiß tödtet dich noch dein Muth, und du
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/162>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.