Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher, von beiden Völkern angestaunt. Endlich traten sie einan¬ der in dem abgemessenen Kampfraume gegenüber und schwangen zornig ihre Speere. Durch das Loos berech¬ tigt, entsandte zuerst Paris den seinigen: der traf dem Menelaus den Schild, aber die Lanzenspitze bog sich am Erze und sank zurück. Dann erhob auch Menelaus seinen Speer und betete dazu mit lauter Stimme: "Zeus, laß mich den strafen, der mich zuerst beleidigt hat, daß man noch unter den späten Enkeln sich scheue, dem Gastfreunde Böses zu thun!" Der entsandte Speer durchschmetterte dem Paris den Schild, durchdrang den Harnisch und durchschnitt ihm den Leibrock an der Weiche; nun riß der Atride sein Schwert aus der Scheide und führte einen Streich auf den Helm des Gegners, aber die Klinge zer¬ sprang ihm knitternd. "Grausamer Zeus, was mißgönnst du mir den Sieg?" rief Menelaus, stürmte auf den Feind ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn umgewendet der griechischen Schlachtordnung zu, ja er hätte ihn geschleift, und der beengende Kehlriemen hätte ihn erwürgt, wenn nicht die Göttin Aphrodite die Noth gesehen und den Riemen gesprengt hätte. So blieb dem Menelaus der leere Helm in der Hand; diesen schleuderte der Held den Griechen zu und wollte aufs Neue auf seinen Gegner eindringen. Den aber hatte Venus in einen schirmenden Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier setzte sie ihn im süß duftenden Gemache nieder, trat dann in Gestalt einer alten spartanischen Wollekrämplerin zu Helena, die auf einem der Thürme unter vielen trojani¬ schen Weibern saß. Die Göttin zupfte sie am Gewand
Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher, von beiden Völkern angeſtaunt. Endlich traten ſie einan¬ der in dem abgemeſſenen Kampfraume gegenüber und ſchwangen zornig ihre Speere. Durch das Loos berech¬ tigt, entſandte zuerſt Paris den ſeinigen: der traf dem Menelaus den Schild, aber die Lanzenſpitze bog ſich am Erze und ſank zurück. Dann erhob auch Menelaus ſeinen Speer und betete dazu mit lauter Stimme: „Zeus, laß mich den ſtrafen, der mich zuerſt beleidigt hat, daß man noch unter den ſpäten Enkeln ſich ſcheue, dem Gaſtfreunde Böſes zu thun!“ Der entſandte Speer durchſchmetterte dem Paris den Schild, durchdrang den Harniſch und durchſchnitt ihm den Leibrock an der Weiche; nun riß der Atride ſein Schwert aus der Scheide und führte einen Streich auf den Helm des Gegners, aber die Klinge zer¬ ſprang ihm knitternd. „Grauſamer Zeus, was mißgönnſt du mir den Sieg?“ rief Menelaus, ſtürmte auf den Feind ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn umgewendet der griechiſchen Schlachtordnung zu, ja er hätte ihn geſchleift, und der beengende Kehlriemen hätte ihn erwürgt, wenn nicht die Göttin Aphrodite die Noth geſehen und den Riemen geſprengt hätte. So blieb dem Menelaus der leere Helm in der Hand; dieſen ſchleuderte der Held den Griechen zu und wollte aufs Neue auf ſeinen Gegner eindringen. Den aber hatte Venus in einen ſchirmenden Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier ſetzte ſie ihn im ſüß duftenden Gemache nieder, trat dann in Geſtalt einer alten ſpartaniſchen Wollekrämplerin zu Helena, die auf einem der Thürme unter vielen trojani¬ ſchen Weibern ſaß. Die Göttin zupfte ſie am Gewand
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Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem
Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher,
von beiden Völkern angeſtaunt. Endlich traten ſie einan¬
der in dem abgemeſſenen Kampfraume gegenüber und
ſchwangen zornig ihre Speere. Durch das Loos berech¬
tigt, entſandte zuerſt Paris den ſeinigen: der traf dem
Menelaus den Schild, aber die Lanzenſpitze bog ſich am
Erze und ſank zurück. Dann erhob auch Menelaus ſeinen
Speer und betete dazu mit lauter Stimme: „Zeus, laß
mich den ſtrafen, der mich zuerſt beleidigt hat, daß man
noch unter den ſpäten Enkeln ſich ſcheue, dem Gaſtfreunde
Böſes zu thun!“ Der entſandte Speer durchſchmetterte
dem Paris den Schild, durchdrang den Harniſch und
durchſchnitt ihm den Leibrock an der Weiche; nun riß der
Atride ſein Schwert aus der Scheide und führte einen
Streich auf den Helm des Gegners, aber die Klinge zer¬
ſprang ihm knitternd. „Grauſamer Zeus, was mißgönnſt
du mir den Sieg?“ rief Menelaus, ſtürmte auf den Feind
ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn umgewendet der
griechiſchen Schlachtordnung zu, ja er hätte ihn geſchleift,
und der beengende Kehlriemen hätte ihn erwürgt, wenn
nicht die Göttin Aphrodite die Noth geſehen und den
Riemen geſprengt hätte. So blieb dem Menelaus der
leere Helm in der Hand; dieſen ſchleuderte der Held den
Griechen zu und wollte aufs Neue auf ſeinen Gegner
eindringen. Den aber hatte Venus in einen ſchirmenden
Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier
ſetzte ſie ihn im ſüß duftenden Gemache nieder, trat dann
in Geſtalt einer alten ſpartaniſchen Wollekrämplerin zu
Helena, die auf einem der Thürme unter vielen trojani¬
ſchen Weibern ſaß. Die Göttin zupfte ſie am Gewand
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/130>, abgerufen am 22.11.2024.
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