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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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werdet; im zehenten aber werdet ihr die prachtvolle Stadt
erobern. So weissagte damals Kalchas. Nun aber wird
ja Alles vollendet! Die neun Jahre des Kampfes sind
vorüber, das zehnte Jahr ist erschienen und der Sieg muß
mit ihm kommen. So harret denn die kleine Weile mit¬
einander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die
Veste des Königes Priamus zerstört haben!"

Ein Jubel der versammelten Argiver beantwortete
die Rede des Odysseus, der weise Nestor benützte die
umgewandelte Stimmung der Völker und rieth dem Könige
Agamemnon, sofort, wenn sich etwa noch einer unbändig
nach der Heimkehr sehnte, einem solchen nicht zu verwei¬
gern, zu Schiffe zu gehen und von dannen zu fahren.
Dann aber sollte er die Männer nach Stamm und Ge¬
schlecht absondern und kämpfen lassen: so würde er am
sichersten erfahren, wer von Kriegern und Führern der
Muthigere oder der Feigere sey, und ob Göttergewalt,
oder Furcht, oder mangelnde Kriegserfahrung die Erobe¬
rung Troja's verhindere. Erfreut antwortete auf diesen
Vorschlag der Völkerfürst:

"Fürwahr, Nestor, du der Greis übertriffst unsere
Männer alle durch Einsicht. Hätte ich im Rathe der Grie¬
chen noch zehen deines Gleichen, so sollte mir Troja's
hochragende Burg bald zertrümmert in den Staub sinken!
Ich selbst muß gestehen, daß ich unbesonnen gehandelt
habe, mich mit Achilles wegen des Mädchens zu entzweien.
Jupiter hatte mich damals mit Blindheit geschlagen. Ver¬
söhnen wir beide uns je wieder, so wird der Untergang
Troja's nicht länger säumen! Doch nun wollen wir uns
zum Angriffe rüsten, stärke sich jeder mit einem Mahl,
bereite Schild und Lanze, füttre und tränke seine Rosse,

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werdet; im zehenten aber werdet ihr die prachtvolle Stadt
erobern. So weiſſagte damals Kalchas. Nun aber wird
ja Alles vollendet! Die neun Jahre des Kampfes ſind
vorüber, das zehnte Jahr iſt erſchienen und der Sieg muß
mit ihm kommen. So harret denn die kleine Weile mit¬
einander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die
Veſte des Königes Priamus zerſtört haben!“

Ein Jubel der verſammelten Argiver beantwortete
die Rede des Odyſſeus, der weiſe Neſtor benützte die
umgewandelte Stimmung der Völker und rieth dem Könige
Agamemnon, ſofort, wenn ſich etwa noch einer unbändig
nach der Heimkehr ſehnte, einem ſolchen nicht zu verwei¬
gern, zu Schiffe zu gehen und von dannen zu fahren.
Dann aber ſollte er die Männer nach Stamm und Ge¬
ſchlecht abſondern und kämpfen laſſen: ſo würde er am
ſicherſten erfahren, wer von Kriegern und Führern der
Muthigere oder der Feigere ſey, und ob Göttergewalt,
oder Furcht, oder mangelnde Kriegserfahrung die Erobe¬
rung Troja's verhindere. Erfreut antwortete auf dieſen
Vorſchlag der Völkerfürſt:

„Fürwahr, Neſtor, du der Greis übertriffſt unſere
Männer alle durch Einſicht. Hätte ich im Rathe der Grie¬
chen noch zehen deines Gleichen, ſo ſollte mir Troja's
hochragende Burg bald zertrümmert in den Staub ſinken!
Ich ſelbſt muß geſtehen, daß ich unbeſonnen gehandelt
habe, mich mit Achilles wegen des Mädchens zu entzweien.
Jupiter hatte mich damals mit Blindheit geſchlagen. Ver¬
ſöhnen wir beide uns je wieder, ſo wird der Untergang
Troja's nicht länger ſäumen! Doch nun wollen wir uns
zum Angriffe rüſten, ſtärke ſich jeder mit einem Mahl,
bereite Schild und Lanze, füttre und tränke ſeine Roſſe,

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[99/0121] werdet; im zehenten aber werdet ihr die prachtvolle Stadt erobern. So weiſſagte damals Kalchas. Nun aber wird ja Alles vollendet! Die neun Jahre des Kampfes ſind vorüber, das zehnte Jahr iſt erſchienen und der Sieg muß mit ihm kommen. So harret denn die kleine Weile mit¬ einander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die Veſte des Königes Priamus zerſtört haben!“ Ein Jubel der verſammelten Argiver beantwortete die Rede des Odyſſeus, der weiſe Neſtor benützte die umgewandelte Stimmung der Völker und rieth dem Könige Agamemnon, ſofort, wenn ſich etwa noch einer unbändig nach der Heimkehr ſehnte, einem ſolchen nicht zu verwei¬ gern, zu Schiffe zu gehen und von dannen zu fahren. Dann aber ſollte er die Männer nach Stamm und Ge¬ ſchlecht abſondern und kämpfen laſſen: ſo würde er am ſicherſten erfahren, wer von Kriegern und Führern der Muthigere oder der Feigere ſey, und ob Göttergewalt, oder Furcht, oder mangelnde Kriegserfahrung die Erobe¬ rung Troja's verhindere. Erfreut antwortete auf dieſen Vorſchlag der Völkerfürſt: „Fürwahr, Neſtor, du der Greis übertriffſt unſere Männer alle durch Einſicht. Hätte ich im Rathe der Grie¬ chen noch zehen deines Gleichen, ſo ſollte mir Troja's hochragende Burg bald zertrümmert in den Staub ſinken! Ich ſelbſt muß geſtehen, daß ich unbeſonnen gehandelt habe, mich mit Achilles wegen des Mädchens zu entzweien. Jupiter hatte mich damals mit Blindheit geſchlagen. Ver¬ ſöhnen wir beide uns je wieder, ſo wird der Untergang Troja's nicht länger ſäumen! Doch nun wollen wir uns zum Angriffe rüſten, ſtärke ſich jeder mit einem Mahl, bereite Schild und Lanze, füttre und tränke ſeine Roſſe, 7 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/121>, abgerufen am 25.04.2024.