angenommen hatte, und den Völkern Stillschweigen gebot. Er selbst hob seinen Fürstenstab in die Höhe, daß die Umstehenden aufmerkten und sprach: "Sohn des Atreus! wahrhaftig, so weit ist es gekommen, daß die Griechen dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu werden, sie, die versprochen haben, nicht eher von dannen zu ziehen, als bis sie Troja vertilgt hätten. Nun jam¬ mern sie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heim¬ kehr, und klagen einander ihr Leid! Aber welche Schande wäre es für uns, nachdem wir so lange hier verweilt, leer heimzukehren! Darum, ihr Freunde! geduldet euch doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das uns vor unserer Abfahrt nach Aulis zu Theil wurde, als wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her, Hekatomben unter dem schönen Ahornbaume opferten. Mir ists, als wäre es erst gestern geschehen! Ein gräßlicher Drache mit dunkelfarbigen Schuppen schlüpfte unter dem Altar hervor, und fuhr schlängelnd an dem Ahornbaume hinauf. Dort hing ein Sperlingsnest mit nackten Jun¬ gen schwankend auf einem Aste: ihrer achte schmiegten sich in die Blätter, das neunte aber war die brütende Mutter der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitschern die Kleinen, bis der Drache sein Haupt hindrehte und die jammernde am Flügel erhaschte. Nachdem er die Mutter sammt den Jungen verzehrt, verwandelte Jupiter, der den Drachen gesandt hatte, ihn zum offenbaren Wunderzeichen in einen Stein, und ihr Achiver sahet es mit staunendem Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu: Was stehet ihr verstummt, ihr Griechen? Wisset ihr nicht, daß dieß Wunder eine Wahrsagung Jupiters ist? Die neun Sperlinge sind neun Jahre, die ihr um Troja kriegen
angenommen hatte, und den Völkern Stillſchweigen gebot. Er ſelbſt hob ſeinen Fürſtenſtab in die Höhe, daß die Umſtehenden aufmerkten und ſprach: „Sohn des Atreus! wahrhaftig, ſo weit iſt es gekommen, daß die Griechen dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu werden, ſie, die verſprochen haben, nicht eher von dannen zu ziehen, als bis ſie Troja vertilgt hätten. Nun jam¬ mern ſie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heim¬ kehr, und klagen einander ihr Leid! Aber welche Schande wäre es für uns, nachdem wir ſo lange hier verweilt, leer heimzukehren! Darum, ihr Freunde! geduldet euch doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das uns vor unſerer Abfahrt nach Aulis zu Theil wurde, als wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her, Hekatomben unter dem ſchönen Ahornbaume opferten. Mir iſts, als wäre es erſt geſtern geſchehen! Ein gräßlicher Drache mit dunkelfarbigen Schuppen ſchlüpfte unter dem Altar hervor, und fuhr ſchlängelnd an dem Ahornbaume hinauf. Dort hing ein Sperlingsneſt mit nackten Jun¬ gen ſchwankend auf einem Aſte: ihrer achte ſchmiegten ſich in die Blätter, das neunte aber war die brütende Mutter der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitſchern die Kleinen, bis der Drache ſein Haupt hindrehte und die jammernde am Flügel erhaſchte. Nachdem er die Mutter ſammt den Jungen verzehrt, verwandelte Jupiter, der den Drachen geſandt hatte, ihn zum offenbaren Wunderzeichen in einen Stein, und ihr Achiver ſahet es mit ſtaunendem Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu: Was ſtehet ihr verſtummt, ihr Griechen? Wiſſet ihr nicht, daß dieß Wunder eine Wahrſagung Jupiters iſt? Die neun Sperlinge ſind neun Jahre, die ihr um Troja kriegen
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angenommen hatte, und den Völkern Stillſchweigen gebot.
Er ſelbſt hob ſeinen Fürſtenſtab in die Höhe, daß die
Umſtehenden aufmerkten und ſprach: „Sohn des Atreus!
wahrhaftig, ſo weit iſt es gekommen, daß die Griechen
dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu
werden, ſie, die verſprochen haben, nicht eher von dannen
zu ziehen, als bis ſie Troja vertilgt hätten. Nun jam¬
mern ſie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heim¬
kehr, und klagen einander ihr Leid! Aber welche Schande
wäre es für uns, nachdem wir ſo lange hier verweilt,
leer heimzukehren! Darum, ihr Freunde! geduldet euch
doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das
uns vor unſerer Abfahrt nach Aulis zu Theil wurde, als
wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her,
Hekatomben unter dem ſchönen Ahornbaume opferten. Mir
iſts, als wäre es erſt geſtern geſchehen! Ein gräßlicher
Drache mit dunkelfarbigen Schuppen ſchlüpfte unter dem
Altar hervor, und fuhr ſchlängelnd an dem Ahornbaume
hinauf. Dort hing ein Sperlingsneſt mit nackten Jun¬
gen ſchwankend auf einem Aſte: ihrer achte ſchmiegten ſich
in die Blätter, das neunte aber war die brütende Mutter
der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitſchern die
Kleinen, bis der Drache ſein Haupt hindrehte und die
jammernde am Flügel erhaſchte. Nachdem er die Mutter
ſammt den Jungen verzehrt, verwandelte Jupiter, der den
Drachen geſandt hatte, ihn zum offenbaren Wunderzeichen
in einen Stein, und ihr Achiver ſahet es mit ſtaunendem
Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu: Was
ſtehet ihr verſtummt, ihr Griechen? Wiſſet ihr nicht, daß
dieß Wunder eine Wahrſagung Jupiters iſt? Die neun
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/120>, abgerufen am 24.11.2024.
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