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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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ehrwürdige Nestor die Streitenden mit milder Rede zu
versöhnen. Endlich rief Achilles, sich aus der Versamm¬
lung erhebend, dem Könige zu: "Thue was du willst,
nur muthe mir keinen Gehorsam weiter zu. Nie werde
ich des Mägdleins wegen gegen dich oder Andere die
Arme zum Streit aufheben. Ihr gabet sie mir, ihr könnt
sie mir auch wieder nehmen. Aber laß dir nicht einfallen,
das Mindeste sonst bei meinen Schiffen anzutasten, wenn
du nicht willst, daß dein Blut von meiner Lanze triefe!"

Die Versammlung trennte sich. Agamemnon ließ die
Tochter des Chryses und die Hekatombe zu Schiffe bringen
und Odysseus führte beide ihrer Bestimmung zu. Dann
aber berief der Atride die Herolde Talthybius und Eury¬
bates und befahl ihnen, die Tochter des Brises aus dem
Zelte des Peliden zu holen. Die Herolde gingen ungerne,
jedoch dem drohenden Wort ihres Herrschers gehorchend,
zum Schiffslager. Sie fanden den Achilles vor seinem
Zelte sitzend; und er wurde ihres Anblickes nicht fröhlich;
sie selbst aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu
verkündigen, weswegen sie kämen. Aber Achilles hatte es
ihnen im Geiste schon abgelauscht. "Freude sey mit euch,"
rief er ihnen zu, "ihr Herolde Jupiters und der Menschen!
Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer
Forderung, sondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund
Patroklus, führe die Jungfrau heraus und übergib sie
ihnen. Aber sie selbst sollen mir Zeugen seyn vor den
Göttern, den Menschen und jenem Wütherich: wenn man
je wieder meiner Hülfe bedarf, so ist es nicht meine
Schuld, sondern die Schuld des Atriden, wenn ich nicht
erscheine."

Patroklus brachte das Mädchen, die den Herolden

ehrwürdige Neſtor die Streitenden mit milder Rede zu
verſöhnen. Endlich rief Achilles, ſich aus der Verſamm¬
lung erhebend, dem Könige zu: „Thue was du willſt,
nur muthe mir keinen Gehorſam weiter zu. Nie werde
ich des Mägdleins wegen gegen dich oder Andere die
Arme zum Streit aufheben. Ihr gabet ſie mir, ihr könnt
ſie mir auch wieder nehmen. Aber laß dir nicht einfallen,
das Mindeſte ſonſt bei meinen Schiffen anzutaſten, wenn
du nicht willſt, daß dein Blut von meiner Lanze triefe!“

Die Verſammlung trennte ſich. Agamemnon ließ die
Tochter des Chryſes und die Hekatombe zu Schiffe bringen
und Odyſſeus führte beide ihrer Beſtimmung zu. Dann
aber berief der Atride die Herolde Talthybius und Eury¬
bates und befahl ihnen, die Tochter des Briſes aus dem
Zelte des Peliden zu holen. Die Herolde gingen ungerne,
jedoch dem drohenden Wort ihres Herrſchers gehorchend,
zum Schiffslager. Sie fanden den Achilles vor ſeinem
Zelte ſitzend; und er wurde ihres Anblickes nicht fröhlich;
ſie ſelbſt aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu
verkündigen, weswegen ſie kämen. Aber Achilles hatte es
ihnen im Geiſte ſchon abgelauſcht. „Freude ſey mit euch,“
rief er ihnen zu, „ihr Herolde Jupiters und der Menſchen!
Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer
Forderung, ſondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund
Patroklus, führe die Jungfrau heraus und übergib ſie
ihnen. Aber ſie ſelbſt ſollen mir Zeugen ſeyn vor den
Göttern, den Menſchen und jenem Wütherich: wenn man
je wieder meiner Hülfe bedarf, ſo iſt es nicht meine
Schuld, ſondern die Schuld des Atriden, wenn ich nicht
erſcheine.“

Patroklus brachte das Mädchen, die den Herolden

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[90/0112] ehrwürdige Neſtor die Streitenden mit milder Rede zu verſöhnen. Endlich rief Achilles, ſich aus der Verſamm¬ lung erhebend, dem Könige zu: „Thue was du willſt, nur muthe mir keinen Gehorſam weiter zu. Nie werde ich des Mägdleins wegen gegen dich oder Andere die Arme zum Streit aufheben. Ihr gabet ſie mir, ihr könnt ſie mir auch wieder nehmen. Aber laß dir nicht einfallen, das Mindeſte ſonſt bei meinen Schiffen anzutaſten, wenn du nicht willſt, daß dein Blut von meiner Lanze triefe!“ Die Verſammlung trennte ſich. Agamemnon ließ die Tochter des Chryſes und die Hekatombe zu Schiffe bringen und Odyſſeus führte beide ihrer Beſtimmung zu. Dann aber berief der Atride die Herolde Talthybius und Eury¬ bates und befahl ihnen, die Tochter des Briſes aus dem Zelte des Peliden zu holen. Die Herolde gingen ungerne, jedoch dem drohenden Wort ihres Herrſchers gehorchend, zum Schiffslager. Sie fanden den Achilles vor ſeinem Zelte ſitzend; und er wurde ihres Anblickes nicht fröhlich; ſie ſelbſt aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu verkündigen, weswegen ſie kämen. Aber Achilles hatte es ihnen im Geiſte ſchon abgelauſcht. „Freude ſey mit euch,“ rief er ihnen zu, „ihr Herolde Jupiters und der Menſchen! Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer Forderung, ſondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund Patroklus, führe die Jungfrau heraus und übergib ſie ihnen. Aber ſie ſelbſt ſollen mir Zeugen ſeyn vor den Göttern, den Menſchen und jenem Wütherich: wenn man je wieder meiner Hülfe bedarf, ſo iſt es nicht meine Schuld, ſondern die Schuld des Atriden, wenn ich nicht erſcheine.“ Patroklus brachte das Mädchen, die den Herolden

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/112>, abgerufen am 24.04.2024.