habt und alle euch unterworfene oder mit euch verbündete Städte rings umher in Trümmer liegen, ihr selbst aber nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Noth gera¬ then seyd, liegt ein glücklicher Ausgang unseres Streites immer noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle brechen wir unsre Lagerhütten ab, steigen zu Schiffe, lich¬ ten die Anker, und verlassen mit der furchtbaren Flotte, die euch so vielen Schaden gethan hat, euren Strand für immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber seyn sollte, als die Fremde, die eure Stadt zu seinem und eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm den Knaben Polydorus, sein jüngstes und geliebtestes Kind, den unser Held Ajax in Thracien dem Könige Polymnestor entrissen hat, und der hier gebunden vor euch steht und von eurem und eures Königes, seines Va¬ ters Entschlusse, seine Freiheit und sein Leben erwartet. Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr sie heute noch in unsere Hände, so wird der Knabe seiner Fesseln ledig und bleibt im Hause seines Vaters. Wird uns Helena verweigert, so gehe eure Stadt zu Grunde und vorher noch wird euer König sehen müssen, was er für sein Leben nicht sehen möchte!
Ein tiefes Stillschweigen herrschte in der ihn umrin¬ genden Versammlung des trojanischen Volkes, als Odys¬ seus aufgehört hatte zu sprechen. Endlich ergriff der weise und bejahrte Antenor das Wort und sprach: "Lie¬ ben Griechen und einst meine Gäste! Alles was ihr uns saget, wissen wir selbst, und müssen in unserm Herzen euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache
habt und alle euch unterworfene oder mit euch verbündete Städte rings umher in Trümmer liegen, ihr ſelbſt aber nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Noth gera¬ then ſeyd, liegt ein glücklicher Ausgang unſeres Streites immer noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle brechen wir unſre Lagerhütten ab, ſteigen zu Schiffe, lich¬ ten die Anker, und verlaſſen mit der furchtbaren Flotte, die euch ſo vielen Schaden gethan hat, euren Strand für immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber ſeyn ſollte, als die Fremde, die eure Stadt zu ſeinem und eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm den Knaben Polydorus, ſein jüngſtes und geliebteſtes Kind, den unſer Held Ajax in Thracien dem Könige Polymneſtor entriſſen hat, und der hier gebunden vor euch ſteht und von eurem und eures Königes, ſeines Va¬ ters Entſchluſſe, ſeine Freiheit und ſein Leben erwartet. Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr ſie heute noch in unſere Hände, ſo wird der Knabe ſeiner Feſſeln ledig und bleibt im Hauſe ſeines Vaters. Wird uns Helena verweigert, ſo gehe eure Stadt zu Grunde und vorher noch wird euer König ſehen müſſen, was er für ſein Leben nicht ſehen möchte!
Ein tiefes Stillſchweigen herrſchte in der ihn umrin¬ genden Verſammlung des trojaniſchen Volkes, als Odyſ¬ ſeus aufgehört hatte zu ſprechen. Endlich ergriff der weiſe und bejahrte Antenor das Wort und ſprach: „Lie¬ ben Griechen und einſt meine Gäſte! Alles was ihr uns ſaget, wiſſen wir ſelbſt, und müſſen in unſerm Herzen euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0101"n="79"/>
habt und alle euch unterworfene oder mit euch verbündete<lb/>
Städte rings umher in Trümmer liegen, ihr ſelbſt aber<lb/>
nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Noth gera¬<lb/>
then ſeyd, liegt ein glücklicher Ausgang unſeres Streites<lb/>
immer noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns<lb/>
heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle<lb/>
brechen wir unſre Lagerhütten ab, ſteigen zu Schiffe, lich¬<lb/>
ten die Anker, und verlaſſen mit der furchtbaren Flotte,<lb/>
die euch ſo vielen Schaden gethan hat, euren Strand für<lb/>
immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir<lb/>
bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber ſeyn<lb/>ſollte, als die Fremde, die eure Stadt zu ſeinem und<lb/>
eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm<lb/>
den Knaben Polydorus, ſein jüngſtes und geliebteſtes<lb/>
Kind, den unſer Held Ajax in Thracien dem Könige<lb/>
Polymneſtor entriſſen hat, und der hier gebunden vor<lb/>
euch ſteht und von eurem und eures Königes, ſeines Va¬<lb/>
ters Entſchluſſe, ſeine Freiheit und ſein Leben erwartet.<lb/>
Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr ſie heute noch<lb/>
in unſere Hände, ſo wird der Knabe ſeiner Feſſeln ledig<lb/>
und bleibt im Hauſe ſeines Vaters. Wird uns Helena<lb/>
verweigert, ſo gehe eure Stadt zu Grunde und vorher<lb/>
noch wird euer König ſehen müſſen, was er für ſein Leben<lb/>
nicht ſehen möchte!</p><lb/><p>Ein tiefes Stillſchweigen herrſchte in der ihn umrin¬<lb/>
genden Verſammlung des trojaniſchen Volkes, als Odyſ¬<lb/>ſeus aufgehört hatte zu ſprechen. Endlich ergriff der<lb/>
weiſe und bejahrte Antenor das Wort und ſprach: „Lie¬<lb/>
ben Griechen und einſt meine Gäſte! Alles was ihr uns<lb/>ſaget, wiſſen wir ſelbſt, und müſſen in unſerm Herzen<lb/>
euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[79/0101]
habt und alle euch unterworfene oder mit euch verbündete
Städte rings umher in Trümmer liegen, ihr ſelbſt aber
nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Noth gera¬
then ſeyd, liegt ein glücklicher Ausgang unſeres Streites
immer noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns
heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle
brechen wir unſre Lagerhütten ab, ſteigen zu Schiffe, lich¬
ten die Anker, und verlaſſen mit der furchtbaren Flotte,
die euch ſo vielen Schaden gethan hat, euren Strand für
immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir
bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber ſeyn
ſollte, als die Fremde, die eure Stadt zu ſeinem und
eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm
den Knaben Polydorus, ſein jüngſtes und geliebteſtes
Kind, den unſer Held Ajax in Thracien dem Könige
Polymneſtor entriſſen hat, und der hier gebunden vor
euch ſteht und von eurem und eures Königes, ſeines Va¬
ters Entſchluſſe, ſeine Freiheit und ſein Leben erwartet.
Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr ſie heute noch
in unſere Hände, ſo wird der Knabe ſeiner Feſſeln ledig
und bleibt im Hauſe ſeines Vaters. Wird uns Helena
verweigert, ſo gehe eure Stadt zu Grunde und vorher
noch wird euer König ſehen müſſen, was er für ſein Leben
nicht ſehen möchte!
Ein tiefes Stillſchweigen herrſchte in der ihn umrin¬
genden Verſammlung des trojaniſchen Volkes, als Odyſ¬
ſeus aufgehört hatte zu ſprechen. Endlich ergriff der
weiſe und bejahrte Antenor das Wort und ſprach: „Lie¬
ben Griechen und einſt meine Gäſte! Alles was ihr uns
ſaget, wiſſen wir ſelbſt, und müſſen in unſerm Herzen
euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/101>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.